Mit einer gemeinsamen, weltweiten Kampagne wollen die Arzneimittelbehörden erneut dazu auffordern, Verdachtsfälle von Nebenwirkungen über die behördlichen Meldewege mitzuteilen, um insgesamt die Arzneimittelsicherheit zu verbessern. In diesem Jahr liegt der Fokus auf der Polypharmazie.
Bereits zum vierten Mal in Folge findet die Kampagne statt: Insgesamt nehmen weltweit 57 Arzneimittelbehörden teil – somit sind Staaten aller Kontinente vertreten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die EU-Kommission sowie die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) unterstützen die Kampagne. Da der Fokus in diesem Jahr auf der Behandlung mit mehreren verschiedenen Arzneimitteln liegt, sollen vor allem Patienten, deren Angehörige sowie medizinisches Fachpersonal sensibilisiert werden: Denn eine gleichzeitige Behandlung mit mehreren verschiedenen Arzneimitteln kann möglicherweise auch zu unerwünschten Reaktionen führen.
Häufig sei den Menschen nicht bewusst, dass Arzneimittel sich gegenseitig beeinflussen oder ihre Kombination unerwünschte Reaktionen hervorrufen können, erklärt PEI-Präsident Professor Dr. Klaus Cichutek. Je größer die Anzahl der eingenommenen Medikamente, desto mehr sollten Patienten darauf achten, ob neue Symptome auftreten. Bei einem Verdacht sollen diese an die Behörden gemeldet werden, erläutert Cichutek. „Das Erfassen großer Datenmengen ist eine Voraussetzung, um das Nutzen-Risiko-Profil präziser einzuschätzen und Signale zu erkennen. Big Data ebnen den Weg, Arzneimittel noch sicherer zu machen.“
Wichtig für ein Höchstmaß an Arzneimittelsicherheit sei daher, alle vermuteten Nebenwirkungen behördlich zu melden. In Deutschland nehmen diese Meldungen das BfArM sowie das PEI als Aufsicht für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel entgegen. „Erfahrungsgemäß werden nicht alle Verdachtsfälle auf Nebenwirkungen gemeldet, weil Betroffene oder deren Angehörige die beobachteten Reaktionen nach der Einnahme von Medikamenten nur der Grunderkrankung zuschreiben und daher nicht melden“, so das PEI. Dennoch sollte auch in diesen Fällen direkt eine Benachrichtigung an die zuständige Behörde erfolgen.
„Um mögliche Risiken von Arzneimitteln früh identifizieren zu können, spielen die Meldungen eine große Rolle“, erklärt Professor Dr. Karl Broich, Präsident des BfArM. Bei der Auswertung dieser Daten werde auch die Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) immer stärker an Bedeutung gewinnen, beispielsweise, um die Qualität der Meldungen automatisch zu bewerten. „Alle Maßnahmen dienen dazu, Erkenntnisse über die Anwendung und den Gebrauch von Arzneimitteln zu gewinnen. So ist jede Meldung auch ein Beitrag für den Patientenschutz.“
Auf jeden Fall sollten Betroffene die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt informieren, rät das PEI – auch für das medizinische Fachpersonal gelte, dass Arzneimittelrisiken nur dann schnell zu identifizieren seien, wenn sie Verdachtsfälle an die Behörden melden. Die Behörden seien auf belastbare Daten aus der Praxis angewiesen, um mögliche Risikosignale, beispielsweise für bisher unbekannte Nebenwirkungen, bei einem Arzneimittel zu identifizieren. Zur Meldung wird auf der Website des PEI und des BfArM ein entsprechendes Portal bereitgestellt.
Die Verdachtsfälle sollen dadurch schnell an die Experten für die Arzneimittelsicherheit übermittelt werden. Außerdem gelangen die Meldungen in die zentrale „Europäische Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen“ (EudraVigilance): Diese Datenbank enthält einen umfangreichen Datenpool, der es erlaubt, Arzneimittelrisiken EU-weit zu überwachen. Nur über das gemeinsame Online-Meldeportal von BfArM und PEI könne in Deutschland sichergestellt werden, dass Verdachtsfälle von Nebenwirkungen in die EU-Datenbank einfließen. Der Datenschutz sei zudem auf allen Meldewegen gewährleistet, heißt es von den Behörden.
In Bezug auf die Meldung von Nebenwirkungen gab es in diesem Jahr reichlich Diskussionsstoff: Das Start-up Medikura entwickelte die Plattform Nebenwirkungen.de. Das Ziel: Die Nebenwirkungen sollen einfacher gemeldet werden können, ohne das Online-Formular des BfArM nutzen zu müssen, welches das Startup als „erhebliches Hindernis“ bezeichnete, da es kompliziert und unübersichtlich sei. Patienten, Ärzte und Hersteller sollen durch Medikura in einem System verbunden sein und Nebenwirkungsmeldungen anwenderfreundlicher werden.
Doch das Start-up erntete viel Kritik: So hält die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) gar nichts von dem Modell und schoss in einer Stellungnahme scharf gegen das Portal. Deutschland verfüge bereits über „ein gesetzlich etabliertes und wirksames System, um Nebenwirkungen zu erfassen“, so die AkdÄ. „Die Beteiligten an diesem System sind untereinander vernetzt, ihre Aufgaben sind durch gesetzlich verankerte Vorschriften festgelegt, deren Erfüllung kontinuierlich überprüft wird.“ Auch der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) äußerte sich kritisch.
Der Betreiber des Portals hatte anschließend öffentlich zur heftigen Kritik Stellung bezogen. Das Start-up Medikura warf der AkdÄ vor, sich einer konstruktiven Zusammenarbeit verschlossen zu haben und Angebote zur Verbesserung des Meldesystems zu ignorieren. Man habe den Eindruck, die AkdÄ nehme die Patienten nicht ernst. Nach Ärzten und Herstellern stellte sich schließlich auch die Standesvertretung der Apotheker gegen das Start-up: Die ABDA rät von der Nutzung des Portals ab. Stattdessen sollten sich Patienten bei Nebenwirkungen an den Apotheker vor Ort wenden.
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