In Rennes ist ein Teilnehmer einer Phase-I-Studie verstorben; fünf weitere liegen im Krankenhaus, ihnen geht es inzwischen besser. Solche Vorfälle passieren extrem selten, sind sich Experten einig. Auch die Journalistin Heide Neukirchen fordert eine differenzierte Betrachtung. Bei den Recherchen für ihr Buch „Das Patienten-Dilemma“ hatte sie als Probandin selbst an Studien teilgenommen.
Allein in Deutschland wurden nach Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seit 2004 mehr als 11.000 klinische Prüfungen durchgeführt – ohne schwerwiegende Komplikationen. Neukirchen fordert daher, nicht die gesamte Pharmaindustrie über einen Kamm zu scheren. „Man muss sich vor Augen führen, wie selten dabei solch schwere Nebenwirkungen auftreten. Der Prozentsatz ist verschwindend gering“.
Neukirchen hat selbst Erfahrungen als Teilnehmerin klinischer Studien gesammelt und für ihre Recherchen außerdem viele Erfahrungsberichte von Studienteilnehmern erhalten. In Phase I, wenn das Medikament zum ersten Mal am Menschen getestet werde, sei das Risiko für Komplikationen am größten. Man mache sich oft nicht klar, dass der Sprung vom Tierversuch zu klinischen Studien am Menschen gewaltig sei, betont Neukirchen. Da bleibe immer ein Restrisiko.
Im aktuellen Fall sieht die Expertin durchaus offene Fragen. In Phase-I-Studien erhalten die Probanden Geld zur Aufwandsentschädigung – und das seien nicht selten auch höhere Summen. „Da besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die Prüfer ihre Probanden nicht sorgfältig genug über die Risiken aufklären“, so die Journalistin. „Die Vorbereitung der Teilnehmer ist immer entscheidend. Wenn man Geld braucht, verkauft man seine Seele.“
Außerdem müsse man fragen, ob die Dosisanpassung im Rahmen der Studie mit richtigen Dingen zugegangen sei. Offenbar seien die Nebenwirkungen aufgetaucht, als von der niedrigsten Dosis auf eine deutlich höhere gewechselt wurde. „Hier muss die Firma sich fragen lassen, ob das Prüfprotokoll eingehalten wurde. War dieser Sprung wirklich so erlaubt und von der Ethikkommission genehmigt?“
Ebenfalls nicht klar ist bis jetzt, ob nach dem Auftreten der Komplikationen schnell genug Gegenmaßnahmen ergriffen wurden – und wenn ja, ob dies die richtigen gewesen seien. Die Öffentlichkeitsarbeit sei jedenfalls katastrophal, meint die Expertin. „Die Vorfälle sind schon am 7. und 8. Januar passiert, informiert wurde die Öffentlichkeit aber erst eine Woche später. Da fragt man sich zwangsläufig, was in dieser Woche passiert ist.“
Ein generelles Transparenzproblem der Pharmaindustrie sieht die Expertin nicht. Insbesondere die großen Konzerne müssten aufpassen, dass nichts passiert. „Das würde den Unternehmen spätestens nach der Marktzulassung auf die Füße fallen, wenn schwere Nebenwirkungen auftauchen, die vorher vertuscht wurden“, sagt sie. „Und dann wäre der Skandal noch viel größer. Es liegt im ureigenen Interesse der Pharmaunternehmen, dass die Studien richtig durchgeführt werden“.
Besonders die großen Pharmaunternehmen versuchen auch aus diesem Grund, die klinische Forschung auszulagern. Auftragsforschungsunternehmen wie Parexel oder Quintiles, auch Clinical Research Organisations (CRO) genannt, übernehmen das klinische Studienprogramm. „Die Pharmaunternehmen entwickeln sich mehr und mehr von Forschungsunternehmen zu reinen Vertriebsorganisationen“, berichtet die Mitarbeiterin eines Dienstleisters, die namentlich nicht genannt werden will. Damit verschwinde aber auch die Erfahrung, die in vielen Jahren klinischer Entwicklung entstanden sei, aus den Konzernen.
Oft werden neue Medikamente daher von kleinen Unternehmen entwickelt und erst in späten klinischen Phasen von großen Konzernen gekauft. Das Risiko wird damit ausgelagert. Die kleinen Forschungseinrichtungen aber besitzen oftmals nicht die Ressourcen und das Know-how, um die enormen regulatorischen Anforderungen bewältigen zu können.
„Die Bürokratie verschlingt viel zu viele Ressourcen, die eigentlich für die Forschung gebraucht würden“, sagt auch Neukirchen. Das hat sie selbst miterlebt. Oft müssen durch die vielen Formalia Zeitverzögerungen von Monaten oder sogar Jahren in Kauf genommen werden. Das sei nicht im Sinne der Patienten. „Die Regelungen für klinische Studien sind übertrieben“, sagt Neukirchen. „Wenn ein Unternehmen seine Studie ordentlich durchführt, dann passiert wenig – daran ändert auch der Vorfall in Frankreich nichts.“
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