Alternativmedizinische Therapien finden nach wie vor auch bei schweren Erkrankungen wie Krebs weite Verbreitung. Komplementär zur Schulmedizin finden sie oft auch in Fachkreisen eine gewisse Akzeptanz, gefährlich und oft auch illegal wird es, wenn sie wissenschaftliche fundierte Behandlungen nicht ergänzen, sondern ersetzen. Die Wochenzeitung Die Zeit hat sich in einer ausführlichen Reportage der tragischen Geschichte des Arztes Dr. Dr. Rainer Schäfer gewidmet, der dutzende bis hunderte Krebspatienten mit einer selbst entwickelten Therapie behandelt hat. Die Arzneimittel dafür besorgte ihm eine befreundete Apothekerin. Nachdem einer der Patienten während der Therapie verstarb, setzte auch Schäfer seinem Leben ein Ende.
Die Reportage ist das Ergebnis von monatelanger Recherchearbeit und Interviews mit 20 Personen aus dem Umfeld Schäfers. Sie zeichnet das Bild eines hoch begabten und hoch intelligenten Mediziners, der sich – mutmaßlich begünstigt durch persönliche Rückschläge – in einer Wahnvorstellung verrannte, die am Ende mindestens einem seiner Patienten das Leben kostete.
Im März 2018 sitzt der 70-jährige Heinz-Peter Kröpelin in einer Ferienwohnung im mecklenburgischen Güstrow und erhält eine von Schäfer selbst angemischte Chemotherapie aus Abraxane (Paclitaxel, Celgene), dem Nitrofuran-Antibiotikum Nifuraxid und Kortison. Kurz darauf ist Kröpelin tot. Rund eine halbe Stunde nach Beginn der Infusion war sein Blutdruck abgesackt, sein Kreislauf brach zusammen. Schäfer versuchte noch, ihn mit Reanimationsversuchen, Adrenalin, Cortison und Elektroschocks zu retten, doch die herbeigerufene Notärztin kann nur noch Kröpelins Tod feststellen.
Knapp ein halbes Jahr vorher hatte er sich an den Arzt gewandt. 2011 war bei Kröpelin Prostatakrebs festgestellt worden, seitdem kämpfte er mit allen Mitteln gegen den Krebs: Operationen, Bestrahlung, Chemotherapie, Entfernung der Lymphknoten, Homonentzugstherapie. Als im Oktober 2017 erneutes Tumorwachstum diagnostizieret wird, wendet sich Kröpelin über gemeinsame Bekannte an Schäfer. Der verschreibt ihm zahlreiche Naturheilmittel und einen Mix aus Medikamenten, die in der Krebstherapie eigentlich keine Anwendung finden: Antabus (Disulfiram, Nycomed), das Antirheumatikum Celebrex (Celecoxib, Pfizer) und das Osteoporosemittel Risedronat. Die Medikamente zahlt Kröpelin selbst, als Honorar nimmt Schäfer hundert Euro im Monat.
Schäfer geht es offensichtlich nicht ums Geld, er ist wirklich von seiner Idee und von seinen „Forschungen“ überzeugt. Dabei ist er kein Spinner, sondern hat einen durchaus seriösen wissenschaftlichen Hintergrund: Seit 1985 arbeitete der promovierte Mediziner als Anästhesist in Köln. Nach einer Scheidung beschließt er 2004, gemeinsam mit Freunden nach Australien zu ziehen, er beginnt an der Universitätsklinik von Perth zu arbeiten. Als nach einem Jahr sein Arbeitsverhältnis endet, beschließt er, mit 45 Jahren noch einmal zu studieren. Am Institut für Pharmazie der Curtin University of Technology schreibt er sich für Biomedizinische Wissenschaften ein und beginnt bald, sich verstärkt mit Tumorbiologie zu befassen.
Sein Doktorvater ist kein Mediziner, sondern Biochemiker und laut der Reportage offenbar überfordert mit dem Thema. Er bittet Schäfer, sich einen Arzt zu suchen, der seine Arbeit mit betreut. An der medizinischen Fakultät der Universität kann er das nicht, denn sie hat keine. So geriet Schäfer an William Barnes, einen Arzt und Alternativmediziner aus Freemantle bei Perth, der seit 30 Jahren angibt, Krebs mit natürlichen Stoffen wie Vitamin C und Pflanzenextrakten zu heilen. Nach dem Tod einer Patientin im Jahr 2015 wurde ihm die Approbation entzogen. Bereits acht Jahre zuvor begann die Zusammenarbeit mit Schäfer, den Barnes als Assistenten in seiner Praxis anstellt.
Dort entwickelt der deutsche Arzt seine Tumortheorien: In deren Kern geht es darum, die Tumoren von ihren Signalwegen abzuschneiden. Er testet über die Jahre 92 Stoffe in 3000 verschiedenen Kombinationen, um dieses Ziel zu erreichen, darunter pflanzliche Stoffe wie Kurkuma und Manuka-Honig, Medikamente wie Disulfiram bis zu chemischen Verbindungen wie Staurosporin und Maleinsäurediethylester. Das Ganze testet er in Australien an Mäusen. Gelegentlich ließ er sich bei der Recherche der Stoffe von einem ehemaligen Patienten in Deutschland helfen, mit dem er sich angefreundet hatte. Der hat keinerlei medizinische Ausbildung, sondern ist von Beruf Installateur.
„Es mag verrückt erscheinen, ist aber genau so“, fassen die beiden Autoren Oliver Hollenstein und Sebastian Kempkens das Geschehen zusammen: „Ein Mann schreibt an einer Universität ohne medizinische Fakultät eine Doktorarbeit über ein medizinisches Thema, betreut von einem Biochemiker, der keine Ahnung hat, und einem Arzt, der bald die Approbation verlieren wird, unterstützt von einem Installateur aus dem Rheinischen.“
2010 schließt Schäfer seine Doktorarbeit ab und leitet daraus gemeinsam mit Barnes einen Behandlungsgrundsatz ab, bei dem Krebspatienten eine individuell angemischte Kombination aus Naturheilmitteln, konventionellen Krebsmedikamenten und Arzneimitteln im Off-Label-Use behandelt werden sollen. Seine Dissertation versucht er in einer Fachzeitschrift zu publizieren, wird aber abgelehnt. Von einem pharmazeutischen Unternehmen versucht er Geld für eine klinische Studie zu bekommen, doch das weist ihn ab. Auch seine Bewerbung auf eine Forschungsstelle an der Curtis University scheitert. Als er mit seiner australischen Lebensgefährtin zurück nach Deutschland zieht – er hat einen Job als Anästhesist in Dannenberg an der Elbe angenommen – gewinnt seine Arbeit plötzlich an Fahrt. Krebspatienten melden sich bei ihm, die über gemeinsame Freunde von seiner Forschungsarbeit erfahren haben. „Jetzt beginnt er, Menschen zu behandeln, und sein Ehrgeiz steigert sich nach und nach zum Wahn“, schreiben Hollenstein und Kempkens. „Schäfer betritt die Zwischenwelt der alternativen Krebsmedizin, in der nicht immer leicht zu unterscheiden ist zwischen selbst ernannten Wunderheilern, die mit naiven Patienten reich werden wollen, und Ärzten mit edlen Motiven, die glauben, ein Allheilmittel gegen die tödliche Krankheit gefunden zu haben.“
Schäfer zählt der Darstellung nach eher zur zweiten Kategorie. Anders als viele Scharlatane in der Alternativmedizin stellt er seine Behandlung auch nicht als Gegenkonzept zur Schulmedizin dar, sondern führt sie oft parallel zu den klassischen Krebstherapien seiner Patienten durch und arbeitet selbst mit echten, zugelassenen Arzneimitteln. Die bezieht er über eine Apothekerin: Er hatte ihren krebskranken Vater behandelt und sich in der Zeit mit ihr angefreundet. Sie ließ sich von seinen Theorien überzeugen und stieg ein, besorgte ihm die Medikamente, die Schäfer verschrieb und die Patienten aus eigener Tasche bezahlten.
Das System läuft so gut, dass sie die Zusammenarbeit bald auf eine neue Stufe heben wollen. 2016 will Schäfer eine eigene Krebsklinik gründen. Der Sohn des Installateurs, der Schäfer bei der Recherche geholfen hat, eröffnet bereits einen Onlineshop, in dem er Stoffe vertreibt, die für die Therapie gebraucht werden: Vitamin C, Curcuma, Natrium Ascorbat, Luteolin und so weiter. Die echten Arzneimittel, inklusive Zytostatika, besorgt die befreundete Apothekerin. „So wird aus einer kleinen Idee ein Wahnsystem, das wächst und wächst, aber auf falschen Prämissen beruht. Rainer Schäfer hat ein solches System erschaffen“, so die Zeit-Autoren.
Schäfer glaubt seine Therapie zu der Zeit kurz vor dem Durchbruch und wirbt bereits um die Unterstützung krebskranker Prominenter, denen er seine Therapie anbietet, von Wolfgang Bosbach über Michael Douglas bis Robert De Niro – falls die überhaupt antworten, lehnen sie freundlich ab. Doch dann kommt der große Zusammenbruch: der Tod seines Patienten Kröpelin. Zwei Tage nach der Tragödie zeigen dessen Hinterbliebenen Schäfer an, die Staatsanwaltschaft Rostock ermittelt wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn. Die Polizei durchsucht Schäfers Ferienwohnung, holt den Arzt aus einer laufenden Operation heraus. Der Tod habe ihn sehr mitgenommen, berichten Bekannte und Verwandte im Nachhinein, doch Schäfer weist die Schuld von sich. Es habe sich um einen allergischen Schock gehandelt, selbst in einem Krankenhaus hätte man das nicht ausschließen können. Mehrere Monate später bestätigt das auch der Obduktionsbericht. Die Rechtsmediziner kommen zu dem Schluss, dass es sich um einen allergischen Schock handelte und dass unter anderem eine nicht diagnostizierte Herzerkrankung in Kombination mit den Medikamenten todesursächlich gewesen sei.
Doch von dieser Bestätigung erfährt Schäfer nichts mehr. Fünf Tage nach Kröpelins Tod findet eine Putzkraft den Arzt in einem Offenburger Hotel. Er hat sich mit einem Narkosemittel das Leben genommen. Am selben Tag erhält Kröpelins Witwe einen Brief: Er bitte sie um Verzeihung, heißt es da von Schäfer. Er habe ihrem Mann nichts Böses gewollt und er bitte sie, ihm das zu glauben. „Für mich gibt es nur eine Lösung“, zitiert Die Zeit aus dem Schreiben. „Ich werde Ihrem Mann folgen. Dr. Schäfer“
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