Der Apotheker in seiner Apotheke – kein Geschäftsmodell, das sich skalieren lässt. Doch an den Rändern der Branche bringen sich Investoren in Stellung: Hedgefonds sind etwa bei der Homecare-Gruppe GHD oder beim Herstellbetrieb Zytoservice eingestiegen. Der Berliner Apotheker Manfred Schneider ist einen anderen Weg gegangen, um Kapital einzusammeln: Er hat seinen Spezialherstellbetrieb samt Großhandel unter dem Namen Medios an die Börse gebracht.
Schneider, Jahrgang 1962, verdient sein Geld nach dem Abitur in Hannover zunächst mit Auto- und Motorradreparaturen. Dann will er doch noch etwas „Richtiges“ lernen, also geht er 1985 nach Berlin, um Pharmazie zu studieren. Nach der Approbation arbeitet er zwei Jahre lang in der Kaiser-Wilhelm-Apotheke, bevor er 1994 die BerlinApotheke am Oranienburger Tor gründet.
Obwohl der Standort zentral im Herzen der Hauptstadt liegt, ist der Start nicht leicht. Die Oranienburger Straße ist damals vor allem als Gegend für Nachtschwärmer bekannt. Nebenan leben die Hausbesetzer vom Tacheles, illegale Clubs kommen und gehen, außerdem gibt es direkt vor der Haustür einen Straßenstrich. Als der Senat sich der vernachlässigten Gegend annimmt, wird es noch schlimmer: Über Jahre hinweg ist der Standort eine Großbaustelle.
Schneider hält durch, ist jeden Tag und oft auch nachts in der Apotheke. Eine Apothekerin und eine PKA gehören zum Team, mehr Mitarbeiter kann er sich nicht leisten. Er spezialisiert sich, arbeitet sich in den Bereich der HIV-Versorgung ein. Schnell macht er sich einen Namen, nicht nur, weil er alle Medikamente vorrätig hat und gut mit den Arztpraxen zusammenarbeitet. Bei den Patienten wird die Apotheke zum Anlaufpunkt, weil Schneider spezielle Sprechstunden anbietet: In einem kleinen Büro im Dachgeschoss erklärt er ihnen während der einstündigen Sitzungen die richtige Anwendung der Präparate und gibt ihnen Tipps für eine gesündere Lebensweise. So entsteht auch ein Sortiment speziell zugeschnittener Nahrungsergänzungsmittel auf der Basis von Aminosäuren, das er seinen Kunden individuell empfiehlt.
Im Mai 2002 gehört er zu den Gründern der Deutschen Arbeitsgemeinschaft der HIV kompetenten Apotheken (DAHKA). Weil der Zusammenschluss zunehmend auch wirtschaftliche Interessen verfolgt, kommt es zum Bruch. Schneider steigt aus.
Zweites Standbein wird die Onkologie. Der Bereich der ambulanten Behandlung von Krebspatienten mit individuell dosierten Chemotherapien steht zu Beginn der 1990er Jahre noch am Anfang. Im selben Jahr, in dem Schneider seine Apotheke eröffnet, werden erstmals strenge Auflagen für die Zubereitung erlassen – die Ärzte sind nun auf Spezialisten angewiesen, die die Rezepturen in speziellen Reinräumen innerhalb kürzester Zeit zubereiten und liefern.
So ist es auch ein Onkologe, der Schneider auf das neue Geschäftsfeld aufmerksam macht. Auch in dieses Thema arbeitet er sich schnell ein, zwischen Weihnachten und Neujahr lässt er sich im Krankenhaus Moabit zeigen, welche Zubereitungen vorkommen und was zu beachten ist. Dann baut er sein Büro zum Sterillabor um und nimmt die Rezepturherstellung in Angriff. Mit der Zeit beliefert er immer mehr onkologische Schwerpunktpraxen – sein Anspruch, mehr als nur Infusionsbeutel abzuliefern, zahlt sich aus.
Als die AOK Berlin-Brandenburg Anfang 2010 als erste Kasse überhaupt Sterilrezepturen ausschreibt, ist Schneider nicht dabei. Er will zunächst nicht akzeptieren, dass sich die Ausschreibungen nur aufgrund dezimierter Abgabepreise durchsetzen werden. Erst als die zweite Runde ansteht, schwenkt er ein. Es sind auch wirtschaftliche Zwänge, die ihn dazu bewegen: 2008 hat er seine Zytostatika-Abteilung ausgegründet und in ein neues Sterillabor unweit der Charité investiert. Um den Zuschuss in Höhe von 240.000 Euro, den er dafür von der Investitionsbank Berlin erhalten hat, nicht zurückzahlen zu müssen, muss er den Standort zehn Jahre lang halten. Ohne AOK-Patienten geht das nicht.
Schneider nimmt Claudia Neuhaus bei seinem Herstellbetrieb als Partnerin an Bord. Seine ehemalige Kommilitonin hat gerade die Witzleben-Apotheke komplett übernommen, die ebenfalls in großem Stil Krebspatienten versorgt. Um sich abzusichern, holen die beiden Kollegen einen weiteren Partner dazu: Der Hamburger Herstellbetrieb Zytoservice übernimmt 20 Prozent der Anteile – die drei Inhaber bringen nicht nur Kapital mit, sondern insbesondere auch Know-how.
Nun sind Schneider und Neuhaus bereit, sich an der Ausschreibung zu beteiligen – und die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen: Wurden in der ersten Runde elf von 13 Fachlosen mit Zubereitungen von Oncosachs aus Leipzig beliefert, gehen nun elf von 14 Losen an die Apotheken um Zyto-Service Berlin. Daran wird sich auch bei den folgenden Ausschreibungen nichts ändern – bei jeder Runde verteidigen die Apotheker ihre dominante Position. Nach Unternehmensangaben wird knapp jede dritte Sterilrezeptur in der Hauptstadt heute an den Werkbänken in der Luisenstraße hergestellt.
Parallel baut Schneider sein Apothekengeschäft aus: Schon 2005 übernimmt er eine Apotheke in Friedrichshain, 2006 die traditionsreiche Berolina-Apotheke am Hackeschen Markt sowie die Apotheke an der Charité. Seine Hauptapotheke zieht 2011 einige Meter weiter in die Räume eines Italieners an der Ecke Friedrichstraße, nur einen Steinwurf vom Gesundheitsministerium entfernt.
Um eine weitere Apotheke gründen zu können und sich den Standort in einem neuen Tumorzentrum in Spandau zu sichern, gibt Schneider 2011 seine erste Filiale an Melanie Klotz ab. Die Apothekerin übernimmt auch eine Apotheke am Alexanderplatz – als BerlinApotheke am Roten Rathaus. Als er den Zuschlag in einem neuen Ärztehaus am Garbátyplatz in Pankow bekommt, übernimmt in Spandau mit Jana Lemcke die zweite Partnerapothekerin. Man arbeitet eng zusammen, bietet gemeinsam bei den Zyto-Ausschreibungen, bei denen jede Apotheke nur vier Lose holen darf, und teilt sich bei Engpässen die Mitarbeiter.
Doch Schneider weiß: Apothekenverbund und Herstellbetrieb gleichzeitig wird er auf Dauer nicht führen können – zumindest nicht mit der unternehmerischen Freiheit, die er sich wünscht, und womöglich auch nicht ohne den Pharmazierat auf den Plan zu rufen. Also wandelt er seine Apotheken Anfang 2012 in eine OHG um und nimmt Anike Oleski als Partnerin an Bord. Die Pharmazeutin stammt selbst aus einer Apothekerfamilie und hat fünf Jahre lang für Schneider die Filiale an der Charité geleitet. Nun übernimmt sie als Teilhaberin die Verantwortung für den Verbund mit mittlerweile rund 130 Mitarbeitern.
2016 zeichnet sich ab, dass Schneider auch seinen Herstellbetrieb neu aufstellen muss. Das lange diskutierte Verbot der Zyto-Ausschreibungen nimmt konkrete Formen an, sein Geschäftsmodell ist in Gefahr. Er sieht neben den Risiken aber auch die Chancen: „Bislang waren bei den Ausschreibungen der Kassen hauptsächlich die Preise entscheidend. Nun verlagert sich der Schwerpunkt endlich auf die Qualität.“
Ihm schwebt ein Modell vor, bei dem nicht mehr die Kassen, sondern die Apotheken die Kunden sind: Er will einen „Kompetenzpartner und Lösungsanbieter für Specialty Pharma“ aufbauen, der als Dienstleister Rezepturen in hoher Qualität bereitstellt und dabei Skaleneffekte nutzt. Dazu passt sein Spezialgroßhändler Medios Pharma, der seit der Gründung 2015 rasant gewachsen ist, wegen der Spezialisierung auf hochpreisige Präparate aber gerade an seine finanziellen Grenzen stößt.
In einem Coffee-Shop lernt er Matthias Gärtner kennen. Der Informatiker hat in den 1990er Jahren eine IT-Firma für hochspezialisierte Softwarelösungen, unter anderem Internet-Wettanbieter, gegründet und 2000 erfolgreich an die Börse gebracht. Seitdem arbeitet er als Finanzinvestor, seine Spezialität ist die Verwertung von Mantelgesellschaften. Das sind Unternehmen, die ihren Geschäftszweck verloren haben, mit ihrer Börsennotierung aber nach wie vor steuerlich attraktiv sind.
Das Zusammentreffen ist eine Fügung. Gärtner hat eine Aktiengesellschaft, die eine Zeitlang als Koproduzent der Trickfilmserie „Lauras Stern“ erfolgreich war, nun aber abgewickelt werden soll. Er bietet sie dem Apotheker für einen sogenannten inversen Börsengang an: Schneider soll sein Geschäft einbringen, im Gegenzug würde er die Aktienmehrheit bekommen. Über die Ausgabe von neuen Anteilsscheinen würde er dann neues Kapital besorgen können, verspricht Gärtner.
Schneider willigt ein. Ihm gefällt die Aussicht, Geld von tausenden Kleinaktionären beschaffen zu können. Er möchte nicht, dass sein Unternehmen aufgepumpt und nach ein paar Jahren versilbert oder gar filetiert wird. Er will nachhaltig wachsen – und einen Marktführer im Bereich Specialty Pharmacy aufbauen.
Im ersten Schritt bringt Schneider seinen Spezialgroßhändler ein, dann kauft er die Anteile von Zytoservice an seinem Herstellbetrieb zurück und bringt auch diesen in zwei Tranchen ein. Ende 2016 geht die erste Finanzierungsrunde über die Bühne. 19 Millionen Euro werden durch die Ausgabe neuer Aktien erlöst, mehr als 1000 Anleger aus ganz Europa sind nun Aktionäre der Medios. 30 Prozent gehören den freien Anlegern. Schneider kontrolliert die Mehrheit, Neuhaus ist noch mit 4 Prozent beteiligt.
Schneider und Gärtner geben nun Vollgas. In einem Gewerbegebiet in Charlottenburg sichert sich Medios ein Grundstück mit 3200 Quadratmetern, hier sollen ab Ende 2018 alle Tochterfirmen unter einem gemeinsamen Dach zusammenziehen. Der eigene Außendienst wird gerade ausgebaut, eine eigene Online-Plattform für den Handel programmiert. Die Medios Aktiengesellschaft ist Realität geworden. Die Messlatte hat Schneider selbst hoch gelegt: Bis 2020 können sich die Kapazitäten verfünffachen.
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