Privatgroßhändler feiert 100 Jahre

„Eilt es sehr, dann Richard Kehr“

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Berlin -

In Braunschweig feiert der Privatgroßhändler Richard Kehr sein 100-jähriges Bestehen. Das Unternehmen ist ein Familienbetrieb par excellence. Der Gründer war ein Visionär, die Nachfahren führten den Betrieb mit Leidenschaft weiter und die jüngste Generation bringt Start-up-Wissen mit.

Firmengründer Richard Kehr (Mitte) und seine Belegschaft bei einem Betriebsausflug im Jahr 1936.Foto: Kehr

Das Unternehmen geht auf Richard Kehr zurück, der als mutiger Mann mit einer lyrischen Ader beschrieben wird. 1924 – also in den „Goldenen Zwanzigern“ – wagt er in Halberstadt die Selbstständigkeit und steigt bei Johanna Azalino ein. Die Firma stellt Arzneimittel wie Schmerzmittel oder die Fußpflege „Pedinova“ her. Kehrs Interesse gilt jedoch nicht der Herstellung, sondern der Belieferung mit Arzneimitteln. Den Namen Richard Kehr führt das Unternehmen seit 1932. In jenem Jahr zahlt der damals 54-Jährige die übrigen Kommanditisten aus und überführt die Johanna Azalino KG zum heutigen Namen.

Erstes Lieferfahrzeug auf drei Rädern

1937 holt er das erste Lieferfahrzeug, „ein Tempo Dreirad“, in den Fuhrpark – in einer Zeit, in der noch hauptsächlich mit Pferdekutschen ausgeliefert wird. Auch das Marketing vergisst der Gründer nicht: Das Fahrzeug trägt seinen Namen als Schriftzug. Die Mehrheit der Ware wird per Bahn verschickt – bis nach Berlin. Ein erster Slogan ist „Eilt es sehr, dann Richard Kehr“.

Kurz vor Kriegsende wird der Halberstädter Betrieb vollständig zerstört. Kehr schickt seinen Prokuristen Helmut Schmidt nach Niedersachen, um dort für den Fall der Fälle nach einem neuen Standort zu suchen. Denn Kehr fürchtet die Enteignung durch die Sowjetunion. 1945 kommt ein Lager in Braunschweig dazu, auf drei Etagen in einer alten Konservenfabrik. Das dafür erforderliche Startkapital wird eingenäht in einem Mantel über die Grenze geschmuggelt.

Wolfsburg erste Niederlassung

1949 stirbt der Firmengründer. Das Geschäft wird weitergeführt, sein 35-jähriger Sohn übernimmt die Leitung des Unternehmens. Friedrich Wilhelm Kehr ist gerade erst aus der Kriegsgefangeschaft zurückgekehrt und führt den Großhändler in Zeiten des Wirtschaftswunders. Die Apotheken nehmen damals in Ost und West 1947 quasi alles ab, was geliefert werden kann.

Damals werden mit 32 Angestellten 1,7 Millionen D-Mark erwirtschaftet, 1953 sind es mit 76 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 6,3 Millionen D-Mark. Das Geschäft läuft und neue Räume müssen her. Schnell entwickelt sich die Technik weiter, die erste direkte Sprechverbindung ins Lager wird eingebaut und immer mehr Apotheken in Niedersachsen werden beliefert. Zweimal täglich muss ein Lieferwagen von Braunschweig nach Wolfsburg fahren, um die dortigen 15 Apotheken in Stadt und Umland zu versorgen. Eine neue Niederlassung in Wolfsburg sorgt ab 1965 für kürzere Wege, die jedoch später wieder geschlossen wird.

1966 wird der erste Computer mit Lochkarten angeschafft. Der Umsatz liegt bei rund 36 Millionen D-Mark. Die Großhandlung wird in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt und die dritte Generation mit einbezogen. Kehr selbst hält 55 Prozent. Seinen Kindern Ulrich, Annette und Hanns-Heinrich überschreibt er jeweils 15 Prozent.

Ulrich und der jüngere Bruder Hanns-Heinrich Kehr (rechts) steigen nach dem Tod des Vaters in den Betrieb ein.Foto: Kehr

Kehr-Brüder steigen ein

Die Söhne übernehmen nach dem Tod des Vaters im Jahr 1982 – zunächst steigt Ulrich ein, der Pharmazie studiert hat. Hanns-Heinrich, der mitten im Studium der Volkswirtschaft- und Betriebswirtschaft steckt, kommt später dazu. „Für mich war damals das Motto: Tennislehrer in Australien geht auch.“

Aber die beiden Brüder nehmen die Sache durchaus ernst. Heimlich planen sie einen Neubau in Braunschweig, erst beim Richtfest wird die Belegschaft eingeweiht. „Erst sagte man uns nach, das würden wir nie schaffen. Dann hieß es, jetzt hätten wir uns übernommen.“ Tatsächlich waren es keine einfachen Entscheidungen: Mit Ende 20 mussten sie für eine Landesbürgschaft in Höhe von 4 Millionen D-Mark gerade stehen. „Nur weil der Banker uns vertraute, kam es überhaupt dazu.“

1990 wurde die Verwaltung erweitert; als die Wende kam, beschlossen die Brüder, eine schon geplante zweite Lagerhalle um eine zusätzliche Etage zu ergänzen. Jetzt zahlten sich auch die frühen Investitionen in eine Datenbank aus, denn so konnte Kehr ohne größeren Aufwand den sogenannten Ost-Abschlag in Höhe von 40 Prozent einpflegen.

2003 wird die Eröffnung eines Standorts in Roßlau bei Dessau geplant, gerade noch rechtzeitig kommt es zum Gespräch mit den Brüdern Stefan und Hans-Werner Holdermann, die mit ihrem Familienunternehmen Holdermann aus Baden-Baden ebenfalls gerade einen Ableger in Sachsen-Anhalt gegründet haben. Der Betrieb wird zu einem Gemeinschaftsunternehmen gemacht, das bis heute Bestand hat.

2013 kommt zur Gruppe die Niederlassung Kehr Berlin dazu; Kehr Holdermann erhält vom Insolvenzverwalter der Kooperation Gesine den Zuschlag für deren Großhandelsniederlassung in Ludwigsfelde. Als die Noweda 2016 den Privatgroßhändler Ebert + Jakobi übernimmt, wird Kehr zum führenden Privatgroßhändler. 44 Jahre nach der Übernahme des elterlichen Betriebs haben Ulrich und Hanns-Heinrich Kehr den Umsatz von 95 Millionen D-Mark im Jahr 1980 auf rund 800 Millionen Euro, die in diesem Jahr angepeilt werden, mehr als versechzehnfacht. Statt anfangs 230 gehören heute rund 1200 Apothekerinnen und Apotheker zu den Kunden der Gruppe – mehr als die Hälfte davon aus den neuen Bundesländern. Rund 400 Angestellte gehören zum Betrieb und der Fuhrpark des Tochterunternehmens zählt rund 150 Fahrzeuge.

Felix Kehr (links) soll im kommenden Jahr in die Geschäftsführung mit einsteigen und seinen Vater Hanns-Heinrich Kehr, Stefan Holdermann (rechts) und Thomas Linsenmaier unterstützen.Foto: Kehr

„Heute ist das Geschäft komplexer und erfordert strategischeres Denken. Mein Bruder und ich waren damals noch mehr ‚hands on‘. Wir hatten eine gewisse Unbekümmertheit und haben den unternehmerischen Mut sehr weitgehend gefasst“, sagt Hanns-Heinrich Kehr. „Wir haben 38,5 Jahre zusammengearbeitet und sind eng miteinander. Auch geschäftlich waren wir immer auf einer Linie.“

Guten Gewissens – wie der 68-Jährige sagt – können sie das Geschäft an die nächste Generation abgeben: Felix Kehr, der Sohn von Hanns-Heinrich Kehr, soll im kommenden Jahr in die Geschäftsführung einsteigen. Nach seinem Wirtschaftsingenieurwesen- und Maschinenbaustudium hat er noch einen Master in Betriebswirtschaftslehre im Ausland angehängt und war zunächst in der Autoindustrie und im Bereich Unternehmensberatung tätig. Zuletzt war er beim Online-Spielwarenhändler Mytoys beschäftigt. Seine Cousine Stefanie Kehr war ebenfalls bereits bei Kehr tätig.

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