Privatgroßhändler feiert 100 Jahre

„Eilt es sehr, dann Richard Kehr“ Carolin Ciulli, 13.08.2024 11:59 Uhr

100 Jahre Richard Kehr: Mit einem Dreirad wurde 1937 der Grundstein für den Fuhrpark des Privatgroßhändlers gelegt. Foto: Kehr
Berlin - 

In Braunschweig feiert der Privatgroßhändler Richard Kehr sein 100-jähriges Bestehen. Das Unternehmen ist ein Familienbetrieb par excellence. Der Gründer war ein Visionär, die Nachfahren führten den Betrieb mit Leidenschaft weiter und die jüngste Generation bringt Start-up-Wissen mit.

Das Unternehmen geht auf Richard Kehr zurück, der als mutiger Mann mit einer lyrischen Ader beschrieben wird. 1924 – also in den „Goldenen Zwanzigern“ – wagt er in Halberstadt die Selbstständigkeit und steigt bei Johanna Azalino ein. Die Firma stellt Arzneimittel wie Schmerzmittel oder die Fußpflege „Pedinova“ her. Kehrs Interesse gilt jedoch nicht der Herstellung, sondern der Belieferung mit Arzneimitteln. Den Namen Richard Kehr führt das Unternehmen seit 1932. In jenem Jahr zahlt der damals 54-Jährige die übrigen Kommanditisten aus und überführt die Johanna Azalino KG zum heutigen Namen.

Erstes Lieferfahrzeug auf drei Rädern

1937 holt er das erste Lieferfahrzeug, „ein Tempo Dreirad“, in den Fuhrpark – in einer Zeit, in der noch hauptsächlich mit Pferdekutschen ausgeliefert wird. Auch das Marketing vergisst der Gründer nicht: Das Fahrzeug trägt seinen Namen als Schriftzug. Die Mehrheit der Ware wird per Bahn verschickt – bis nach Berlin. Ein erster Slogan ist „Eilt es sehr, dann Richard Kehr“.

Kurz vor Kriegsende wird der Halberstädter Betrieb vollständig zerstört. 1945 kommt ein Lager in Braunschweig dazu, denn Kehr fürchtet die Enteignung durch die Sowjetunion. Das dafür erforderliche Startkapital schmuggelt ein Angestellter, eingenäht in seinem Mantel, über die Grenze. 1949 stirbt der Firmengründer. Das Geschäft wird weitergeführt. Die Apotheken nehmen damals in Ost und West 1947 quasi alles ab, was geliefert werden kann.

Wolfsburg erste Niederlassung

1950 wird der 35-jährige Sohn des Gründers, Friedrich Wilhelm Kehr, Eigentümer und führt den Großhändler in Zeiten des Wirtschaftswunders. Damals werden mit 32 Angestellten 1,7 Millionen D-Mark erwirtschaftet, 1953 sind es mit 76 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 6,3 Millionen D-Mark. Das Geschäft läuft und neue Räume müssen her. Schnell entwickelt sich die Technik weiter, die erste direkte Sprechverbindung ins Lager wird eingebaut und immer mehr Apotheken in Niedersachsen werden beliefert. Zweimal täglich muss ein Lieferwagen von Braunschweig nach Wolfsburg fahren, um die dortigen 15 Apotheken in Stadt und Umland zu versorgen. Eine neue Niederlassung in Wolfsburg sorgt ab 1965 für kürzere Wege, die jedoch später wieder geschlossen wird.

1966 wird der erste Computer mit Lochkarten angeschafft. Der Umsatz liegt bei rund 36 Millionen D-Mark. Die Großhandlung wird in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt und die dritte Generation mit einbezogen. Kehr selbst hält 55 Prozent. Seinen Kindern Ulrich, Annette und Hanns-Heinrich überschreibt er jeweils 15 Prozent.

Kehr-Brüder steigen ein

Die Söhne übernehmen nach dem Tod des Vaters im Jahr 1982 – zunächst steigt Ulrich ein, der Pharmazie studiert hat. Hanns-Heinrich, der mitten im Volkswirtschaft- und Betriebswirtschaft-Studium steckt, kommt später dazu. „Wir haben 38,5 Jahre zusammengearbeitet und sind eng miteinander. Auch geschäftlich waren wir immer auf einer Linie“, sagt der jüngere Kehr-Bruder. Sie bringen die Digitalisierung in das Unternehmen, die EDV arbeitet auf dem ersten Datenbank-Computer.

2013 kommt zur Gruppe die Niederlassung Kehr Berlin dazu. Als die Noweda 2016 den Privatgroßhändler Ebert + Jakobi übernimmt, wird Kehr zum führenden Privatgroßhändler. 44 Jahre nach der Übernahme des elterlichen Betriebs haben Ulrich und Hanns-Heinrich Kehr den Umsatz von 95 Millionen D-Mark im Jahr 1980 auf rund 800 Millionen Euro, die in diesem Jahr angepeilt werden, mehr als versechzehnfacht. Statt anfangs 230 gehören heute rund 1200 Apothekerinnen und Apotheker zu den Kunden der Gruppe – mehr als die Hälfte davon aus den neuen Bundesländern. Rund 400 Angestellte gehören zum Betrieb und der Fuhrpark des Tochterunternehmens zählt rund 150 Fahrzeuge.

„Heute ist das Geschäft komplexer und erfordert strategischeres Denken. Mein Bruder und ich waren damals noch mehr ‚hands on‘. Wir hatten eine gewisse Unbekümmertheit und haben den unternehmerischen Mut sehr weitgehend gefasst“, sagt Hanns-Heinrich Kehr.

Guten Gewissens – wie der 68-Jährige sagt – können sie das Geschäft an die nächste Generation abgeben: Felix Kehr, der Sohn von Hanns-Heinrich Kehr, soll im kommenden Jahr in die Geschäftsführung einsteigen. Nach seinem Wirtschaftsingenieurwesen- und Maschinenbaustudium hat er noch einen Master in Betriebswirtschaftslehre im Ausland angehängt und war zunächst in der Autoindustrie und im Bereich Unternehmensberatung tätig. Zuletzt war er beim Online-Spielwarenhändler Mytoys beschäftigt. Seine Cousine Stefanie Kehr war ebenfalls bereits bei Kehr tätig.