Seit Ende April sind sämtliche generischen Monopräparate des Blutdrucksenkers Valsartan defekt. Deswegen müssen Patienten, wenn sie keinen komplett neuen Wirkstoff wollen, auf das Originalpräparat ausweichen. Dabei werden allerdings üppige Aufzahlungen fällig. Jetzt wendet sich Apotheker Gunnar Müller mit einem Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Der soll eingreifen und für eine „schnelle und unkonventionelle Regelung“ sorgen.
„Nach zehn Minuten in der Warteschleife der IKK, Rückfragen bei meinem Verband (AVWL) und mehreren Telefonaten mit einem der Originalanbieter (Diovan – Novartis), wende ich mich aus der Hektik des Apothekenalltags – zumal vor einem Feiertag – an Sie mit der Bitte um Regelung / Vermittlung: Die Hütte brennt!!“, schriebt Müller an Spahn per E-Mail: „Es ist aus meiner Sicht unzumutbar, den Patienten Mehrkosten von circa 85 Euro pro 100er-Packung Originalpräparat abzuverlangen/aufzubürden.“
Genauso unzumutbar findet es Müller, „von den deutschen Apotheken vor Ort zu verlangen, in jedem einzelnen Fall eine Genehmigung bei den Krankenkassen zu beantragen!! Ich bitte Sie um schnelle und unkonventionelle Regelung.“ Ob Spahn antworten und reagieren wird, bleibt abzuwarten.
Nur das Original Diovan von Novartis ist derzeit zu bekommen. Hier müssen sich die Kunden aber auf hohe Aufzahlungen einstellen: Inklusive der gesetzlichen Zuzahlung muss der Patient bei der N3-Packung mit 80 mg Wirkstoff 76 Euro aus eigener Tasche zahlen, bei den Präparaten mit 160 und 320 mg sind es 91 beziehungsweise 114 Euro. Letztere ist allerdings ebenfalls derzeit nicht lieferbar.
Bei den Generika haben sich die Ausfälle in den vergangenen Wochen bereits abgezeichnet. Immer wieder waren einzelne Packungsgrößen oder Wirkstärken defekt. Zum Teil mussten die Versicherten umgestellt werden – und dadurch mitunter die Zuzahlung doppelt leisten. Selbst bei Apothekern, die sich aufgrund der Zwischenfälle der vergangenen Monate vorsorglich eingedeckt hatten, geht der Bestand zur Neige.
Fast alle Hersteller waren vom Skandal um verunreinigte Wirkstoffe betroffen und mussten ihre Ware reihenweise vom Markt nehmen. Zunächst waren nur noch Mylan und TAD lieferfähig; beide Firmen hatten die Substanz nicht beim betroffenen chinesischen Lieferanten bezogen; bei Aurobindo waren nur bestimmte Chargen von den Rückrufen betroffen. Doch im November musste auch Mylan eine bis dahin nicht bekannte Verunreinigung melden. Zuletzt war TAD als letzter verbliebener Hersteller mit seinem Valsartan-haltigen Präparat an die Kapazitätsgrenze gestoßen.
Offenbar könnte es bald mehr Nachschub geben. Die Teva-Töchter Ratiopharm und AbZ stehen in den Startlöchern, Hexal und 1 A Pharma wollen in wenigen Monaten wieder lieferfähig sein. TAD will die Lage bis Ende Mai wieder in den Griff bekommen. Nun geht es darum, wer die Nachfrage zuerst bedienen kann – bevor sie gänzlich zusammenbricht. Das Problem: Valsartan spielt immer noch eine wichtige Rolle im Markt.
Bis zu 800.000 Packungen werden laut Iqvia pro Monat abgegeben, im Februar waren es rund 632.000 Packungen. Damit ist der Wirkstoff die Nummer 2 nach Candesartan. Müssten die verbliebenen Anwender nun ebenfalls auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden, könnte dies das Aus für Valsartan bedeuten. Denn noch einen Wechsel wird vermutlich kaum ein Arzt seinen Patienten zumuten wollen.
Valsartan musste im vergangenen Sommer aufgrund von Verunreinigungen mit dem Nitrosamin N-Nitrosodimethylamin (NDMA) und N-Nitrosodiethylamin (NDEA) zurück. Zum Teil waren die aktiven Substanzen mit einem, zum Teil mit beiden als potenziell für den Menschen kanzerogen eingestuften Substanzen verunreinigt. Rückrufe aufgrund der Anwesenheit von NDEA gab es auch bei Irbesartan und Losartan. Zuletzt waren auch in dem Antidiabetikum Pioglitazon geringe Mengen gefunden worden.
Die Hersteller wurden von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zuletzt aufgefordert, ihre Herstellungsprozesse bei Sartan-haltigen Arzneimitteln zu überprüfen, um Nitrosamin-Verunreinigungen auszuschließen. Den Unternehmen wurde eine Übergangszeit von zwei Jahren gewährt. In diesem Zeitraum sollen sie alle erforderlichen Änderungen vornehmen, die die Einhaltung der vorübergehend geltenden strikten Grenzwerte für Nitrosamine gewährleisten. Zum Ende der Übergangsfrist müssen die Hersteller nachweisen, dass die produzierten Arzneimittel keine quantifizierbaren Mengen der Verunreinigungen enthalten. Dies ist Voraussetzung für das Inverkehrbringen der Angiotensin-II-Rezeptorblocker innerhalb der EU.
Spahn hat bereits auf den Skandal reagiert: Mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) erhalten die Bundesoberbehörden für den Rückruf von Arzneimitteln und Wirkstoffen erweiterte Kompetenzen. Die Krankenkassen bekommen dem Entwurf zufolge einen Regressanspruch gegenüber den Herstellern, wenn ein Arzneimittel wegen Qualitätsmängeln zurückgerufen werden muss. Patienten werden zudem von der Zuzahlungspflicht befreit, wenn sie sich aufgrund eines mangelhaften Arzneimittels ein neues Rezept besorgen müssen.
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