Finanzinvestoren nehmen immer mehr Einfluss auf das Gesundheitswesen in Deutschland – neben Klinikkonzernen haben auch Hedgefonds und Start-ups den Markt für sich entdeckt. 50 Millionen Euro etwa hat Avi Medical eingesammelt, um Praxen zu übernehmen und zu transformieren. Die Ärzteverbände laufen Sturm, auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist alarmiert. Ein Gutachten des Iges-Instituts im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) kommt zu dem Ergebnis, dass MVZ im Besitz von Investoren besonders viele Leistungen abrechnen.
Um die Folgen des Einflusses von Kapitalinteressen in der vertragsärztlichen Versorgung besser in Zahlen fassen zu können, hatte die KVB eine Studie beim Iges-Institut in Berlin in Auftrag gegeben. Demnach lagen die abgerechneten Honorarvolumina bei von Investoren getragene Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) in den Jahren 2018 und 2019 deutlich über dem Durchschnitt liegt: So rechnen MVZ fachrichtungsübergreifend 5,7 Prozent mehr ab als Einzelpraxen; bei iMVZ liegt das morbiditätsadjustierte Honorarvolumen je Fall sogar um 10,4 Prozent über dem von Einzelpraxen. Erhöhte Honorarvolumina liegen insbesondere bei Fachinternisten (10,5 Prozent), sowie in den Fachrichtungen Augenheilkunde (15,8 Prozent) und Gynäkologie (16,6 Prozent) vor.
Betrachtet über einen längeren Zeitraum von zwei Jahren entsprechen in der Tendenz und Struktur denen der fallbezogenen Analyse: Bei gleicher Patientenstruktur, gleichen Vorerkrankungen und gleichen Behandlungsanlässen werden in MVZ fachrichtungsübergreifend um 1,9 Prozent höhere Behandlungskosten abgerechnet als in Einzelpraxen. In der Teilgruppe der MVZ im Eigentum von Finanzinvestoren werden morbiditätsadjustiert sogar um 8,3 Prozent höhere Honorarvolumina abgerechnet. Erhöhte Behandlungskosten liegen auch hier insbesondere bei Fachinternisten (6,0 Prozent), in der Augenheilkunde (11,8 Prozent) und in der Gynäkologie (11,7 Prozent).
Dazu kommt, dass bei der hausärztlichen Versorgung in MVZ auch 19,1 Prozent mehr Mitversorgungsleistungen abgerechnet werden als bei der hausärztlichen Versorgung in Einzelpraxen. Mehr als 60 Prozent der zusätzlichen Leistungen entfallen auf mitversorgende Fachärzte, die im gleichen MVZ tätig sind wie der primär versorgende Hausarzt. Bei der Versorgung durch Fachinternisten in MVZ werden 10,2 Prozent mehr Mitversorgungsleistungen abgerechnet als in Einzelpraxen. Ein Drittel der zusätzlichen Leistungen wird von Ärzten erbracht, die im gleichen MVZ tätig sind wie der Fachinternist.
Bei orthopädischer und unfallchirurgischer Versorgung in MVZ werden 14,3 Prozent mehr Mitversorgungsleistungen abgerechnet als in Einzelpraxen. Etwa 70 Prozent der zusätzlichen Leistungen werden von mitversorgenden Fachärzten des gleichen MVZ erbracht. „Demnach zeigt sich in den Analysen ein deutlicher Effekt auf die Erbringung von Leistungen durch mitversorgende Ärzte anderer ärztlicher Fachrichtungen, wenn der primär versorgende Arzt in einem MVZ tätig ist.“ Aufgrund der Methodik kann den Gutachtern zufolge ausgeschlossen werden, dass die Befunde durch Unterschiede in der soziodemographischen Struktur
(Alter, Geschlecht) oder der diagnosebasiert messbaren Morbidität der jeweiligen Patientenkollektive erklärt werden können.
Die Zunahme der Zahl an iMVZ verläuft dynamisch, die Anzahl von Arztpraxisstandorten im Eigentum von Private-Equity-Gesellschaften hat sich im untersuchten Zeitraum um 72 Prozent erhöht. Der Aufkauf von Praxen durch Kapitalinvestoren wird weiter vorangetrieben. So heißt es dazu in dem Iges-Gutachten wörtlich: „Das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel, den Zugang von Finanzinvestoren in die ambulante vertragsärztliche Versorgung wirksam zu begrenzen, wird klar verfehlt.“
In der Gesamtschau zeigten die Ergebnisse, dass unter sonst gleichen Bedingungen eine Versorgung in MVZ sowie insbesondere bei MVZ im Eigentum von Finanzinvestoren höhere Honorarumsätze nach sich ziehe, was die These einer stärkeren Ausrichtung an ökonomischen Motiven stütze. „Angesichts der offenbar ungebrochenen Dynamik in diesem Bereich ist daher zu empfehlen, dass die bereits vorliegenden gesundheitspolitischen Vorschläge und Argumente im Hinblick auf eine Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Zulassung und den Betrieb von MVZ in der laufenden Legislaturperiode aufgegriffen werden sollten.“
Der KVB-Vorstand macht klar: „Die Politik kann nicht länger tatenlos zusehen, wie der Einfluss von Kapitalinvestoren auf unser solidarisches Gesundheitswesen permanent wächst. Die Gesundheit der Menschen darf nicht zum Spekulationsobjekt werden. Denn diese Entwicklung führt auch dazu, dass die Freiberuflichkeit massiv in Frage gestellt wird und dass für jüngere Kolleginnen und Kollegen die Übernahme eines Vertragsarztsitzes finanziell nicht mehr zu stemmen ist“, so Dr. Wolfgang Krombholz, Dr. Pedro Schmelz und Dr. Claudia Ritter-Rupp.
„Wichtig ist, dass klare Vorgaben in Bezug auf Transparenz der Gesellschafterstruktur, Zulassung und Gestaltung solcher iMVZ vom Gesetzgeber gemacht werden mit dem Ziel, eine marktbeherrschende Stellung von iMVZ zu verhindern. Seit vielen Jahren warnen die Ärztinnen und Ärzte sowie deren Standesorganisationen vor einer solchen Entwicklung. Passiert ist bislang allerdings viel zu wenig. Das muss sich jetzt ändern, weil konkrete Zahlen auf dem Tisch liegen.“
Bei einem Talk mit der Spitze der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hatte Lauterbach das Vordringen von Private Equity im Gesundheitswesen kürzlich als „hochproblematisch“ bezeichnet: Dass Investoren Praxen, Verbünde und ganze Facharztschienen kauften, führe zu einer Kommerzialisierung, so der Gesundheitsminister. „Ich sehe das mit größter Sorge. Wir haben dazu im Koalitionsvertrag noch nichts, das ist aber definitiv etwas, das wir uns anschauen werden.“
MVZ waren 2004 von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zugelassen worden. Später wurde der Kreis der Gründungsberechtigten auf bestimmte Träger aus dem Kreis der Leistungserbringer – und inzwischen auch Kommunen – beschränkt und etwa Apotheker bewusst ausgeschlossen. So sollte eine nicht sachgerechte Einflussnahme auf ärztliche Entscheidungen verhindert werden. Doch immer wieder weisen ärztliche und zahnärztliche Körperschaften darauf hin, dass eine wachsende Zahl von MVZ in den Besitz von medizinfremden Investoren, insbesondere Private-Equity-Gesellschaften, gelangt. Die Zunahme von MVZ in der – vielfach aufgrund komplexer gesellschaftsrechtlicher Konstruktionen nicht ohne weiteres erkennbaren – Eigentümerschaft von Finanzinvestoren ist zwischenzeitlich in mehreren Studien untersucht worden.
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