Reizstrom gegen Migräne Katharina Brand, 15.04.2024 13:49 Uhr
Was auf den ersten Blick anmutet wie eine Handy-Armtasche für Läufer, entpuppt sich auf den zweiten Blick als neue, nichtinvasive Therapieform bei Migräne. Nerivio ist verschreibungspflichtig, ab 12 Jahren zugelassen und wird über eine Handy-App gesteuert. Allerdings müssen Nutzerinnen und Nutzer Nerivio komplett selbst bezahlen – und wegwerfen, wenn alle 18 Anwendungen verbraucht sind.
Das Gerät nutzt den Mechanismus der Remote Electrical Neuromodulation (REN), um die körpereigene konditionierte Schmerzmodulation (CPM) zu aktivieren. Dies geschieht durch die Stimulierung nozizeptiver Nervenrezeptoren am Oberarm, welche die natürliche Schmerzlinderung im Hirnstamm aktivieren. Maximal 40 Milliampere werden eingesetzt. Der Hersteller hat eine Studie mit 248 Teilnehmenden vorgelegt, Vergleichsstudien gibt es derzeit noch nicht.
Nerivio kann sowohl in einer Akutsituation als auch prophylaktisch verwendet werden – egal, ob eine Auraphase vorangeht oder nicht. Es sollte innerhalb von 60 Minuten nach Beginn der Kopfschmerzen oder der Aura zur akuten Behandlung von Migräne oder jeden zweiten Tag zur Vorbeugung eingesetzt werden. Nicht geeignet ist das Gerät für Patienten mit aktiven Implantaten oder Epilepsie. Zu Schwangeren oder Kindern unter zwölf Jahren gibt es bislang keine Studiendaten.
Den Vertrieb des Geräts des indischen Arzneimittelherstellers Dr. Reddy’s übernimmt in Deutschland das Tochterunternehmen Betapharm. In den USA ist das Medizinprodukt seit 2019 von der FDA zugelassen. Auf den Deutschlandstart sollen Spanien und Großbritannien zeitnah nachfolgen.
Elektrische Neuromodulation
Laut dem Neurologen Dr. Charly Gaul kann der Patient selbst entscheiden, ob er das Gerät prophylaktisch oder akut einsetzt. „Es beißt sich nicht mit Medikamenten. Auch ein Patient, der beispielsweise eine medikamentöse Prophylaxe etabliert hat, kann Nerivio in Akutphasen nutzen.“
Wie schnell die Wirkung des Medizinprodukts einsetzt, sei eine individuelle Frage; die Wirkung sollte aber innerhalb von 60 Minuten nach Anwendungsbeginn einsetzen. Via App können Anwenderinnen und Anwender die Intensität der Impulse kontrollieren. Zu Beginn der 45-minütigen Behandlung kann das erzeugte Gefühl intensiver sein; dies klinge in der Regel nach wenigen Sekunden ab.
Kosten müssen Patienten selbst tragen
„Aktuell übernehmen die Krankenkassen die Therapie nicht“, erklärt Dr. Herbert Heynck, Geschäftsführer von Betapharm. „Die typischen Zulassungsverfahren für Medizinprodukte durch Krankenkassen dauern mehrere Jahre“, weiß Heynck: „Wir werden diesen Weg angehen.“
Eine Anwendung kostet rund 33 Euro; insgesamt müssen Anwenderinnen und Anwender 598 Euro für Nerivio auf den Tisch legen – nachdem sie ein Privatrezept vom Arzt erhalten haben. Bestellt werden kann das Medizinprodukt ausschließlich über die zugehörige Website. „Wir müssen natürlich sicherstellen, dass die Indikation Migräne eingehalten wird. Das ist nur auf diesem Wege so darzustellen“, erklärt Heynck. Zurzeit gibt es ein Kennenlernangebot für das Gerät, weitere Kostensenkungen sollen folgen, „wenn es eine neue Gerätegeneration gibt, die wir in circa einem Jahr erwarten.“
Aktuell ein Wegwerfprodukt
Jedes Neuromodulations-Armband ist auf 18 Anwendungen mit einer Dauer von je 45 Minuten ausgelegt. Nachdem alle Anwendungen aufgebraucht sind, ist das Gerät in seiner aktuellen Version unbrauchbar. Dafür gibt es laut Heynck zwei Gründe: „Zum einen die Batterielaufzeit aufgrund des hohen Energieverbrauchs. Zum anderen die Elektrodenstabilität. Deren Material verliert über die Anwendungen seine Wirksamkeit.“ Bei neueren Produktgenerationen sollen die Elektroden dann austauschbar und das Gerät wiederverwendbar sein.