Bei der Therapie mit Medizinalcannabis hat sich in der letzten Zeit einiges getan: So hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinem jüngsten Beschluss den Zugang für Palliativpatient:innen erleichert. Für die Region Nordrhein hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) mit der AOK Rheinland/Hamburg einen sogenannten Selektivvertrag abgeschlossen. Außerdem wurden die Indikationsfelder für medizinische Cannabinoide erleichtert. Allerdings läuft die wissenschaftliche Evidenz laut DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann der Versorgung hinterher.
Die Erstattung durch die Krankenkassen ist nach wie vor eines der größten Probleme für den Zugang zu medizinischem Cannabis. Für die Therapie muss ein Kostenübernahmeantrag gestellt werden, das kostet Zeit und bedeutet Aufwand für Ärzt:innen und Patient:innen. Zudem werden noch immer viele Anträge von den Kassen abgewiesen, das entmutigt sowohl die Verordnenden als auch die Schwerkranken.
Die DGS hatte im vergangenen Juli mit der AOK Rheinland/Hamburg daher einen Selektivvertrag geschlossen, der die Ärzt:innen von der Erstellung von Kostenübernahmeanträgen für die Versorgung mit medizinischem Cannabis befreit. Die ärztliche Therapiehoheit soll damit gestärkt, der bürokratische Aufwand und die Wartezeit für die Patient:innen verkürzt werden, Voraussetzung dafür ist aber 20-stündiges CME-zertifiziertes Weiterbildungscurriculum inklusive Lernerfolgskontrolle.
Das sei aber keinesfalls ein Freifahrtsschein für die Verordnung, so der Vize-Präsident der DGS, Norbert Schürmann: Im Rahmen von Regressen seien die Ärzt:innen trotzdem haftbar. Teilnahmeberechtigt am Selektivvertrag sind nur Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg und im KV-Bereich Nordrhein zugelassene oder ermächtigte Ärzt:innen. Eine Ausdehnung des Vertrages sei aber laut Fachgesellschaft in Vorbereitung.
In der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) ist nach dem G-BA-Beschluss ohnehin für den Einsatz von Cannabinoiden keine Antragstellung mehr notwendig. Grundsätzlich wurde die Antragsfrist für stationäre Patienten auf drei Tage reduziert. Das gilt auch für Patienten in der Allgemeinen Ambulanten Palliativen Versorgung (AAPV). Gibt es innerhalb von drei Tagen keine Rückmeldung der Krankenkasse, gilt der Antrag als genehmigt. Es gibt auch keinen Facharztvorbehalt.
„In der palliativen Versorgung kommen Cannabinoide inzwischen bei vier von zehn Patienten zum Einsatz“, so Schürmann. „Bei diesen Patienten erreichen wir mit Cannabinoiden vielfältige Therapieziele. Dazu gehört die Schmerzreduktion, eine Appetitsteigerung, die so einer Tumorkachexie entgegenwirken kann, die antiemetische Wirkung und die schlaffördernde Wirkung.“
Medizincalcannabis schneide in Studien trotzdem schlecht ab, berichtet Schürmann. Das liege daran, dass diese erst bei einer Schmerzreduktion um 50 Prozent als signifikant eingestuft würden. Da Cannabis nur als Add-On-Therapie verwendet werde, sei das nicht zu schaffen. Eine Schmerzreduktion in dieser Höhe sei nach der Standardtherapie praktisch nicht möglich, so Schürmann.
Ein positiver Nebeneffekt beim Einsatz von Cannabinoiden ist aber die mögliche Einsparung von Opioiden: Sechs Monate lang wurden in einer kanadischen Studie 1145 Patient:innen beobachtet, die eine Cannabistherapie erhielten. Die Anzahl der Patient:innen, die Opioide einnahmen, konnte dabei signifikant von 28 Prozent auf 11 Prozent reduziert werden. Hinzu kam eine Dosisreduktion um 78 Prozent – von 152 mg Morphinäquivalent auf 32,2 mg.
In der aktualisierten Praxis-Leitlinie der DGS wurden die Indikationsfelder für den Einsatz medizinischer Cannabinoide auf 13 erweitert. Hinzu gekommen sind das chronische Beckenschmerzsyndrom (CPPS, chronic pelvic pain syndrome), Endometriose, viszeraler Schmerz, rheumatologische Indikationen und das Fibromyalgiesyndrom. „Allerdings läuft die wissenschaftliche Evidenz der Versorgung hinterher“, so Horlemann. „Viele Patienten, denen wir Cannabinoide verordnen, sprechen davon, dass ihnen ein neues Leben geschenkt wurde. Daher ist es so wichtig, dass wir den Zugang zu dieser Therapie erleichtern.“ Im Rahmen der Debatte um die Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken fordert er daher eine klare Abgrenzung zu Medizinalcannabis: Zu häufig werde dies aktuell durcheinandergebracht.
Für die Therapie mit Medizinalcannabis gibt es zwei Varianten, die inhalative Therapie über Blüten und die orale Therapie mit Extrakt. Bei der inhalativen Therapie flutet der Wirkstoff an, im Blut werden hohe THC-Plasmaspiegel erreicht – darin liegt das Missbrauchspotenzial. Die Wirkung hält etwa zwei bis drei Stunden an, so Schürmann, geht aber mit Einschränkungen im Alltag einher: Die Patient:innen dürfen zum Beispiel kein Autofahren.
Die orale Therapie mit Cannabisextrakten werde daher von den meisten Schmerzpatient:innen bevorzugt, berichtet der Experte. Diese wirke eher retardiert, die Wirkung halte dabei bis zu sechs Stunden an.
Beim schädlichen und abhängigen Gebrauch handelt es sich laut Horlemann um Einzelfälle, trotzdem sollten Ärzt:innen auf Missbrauchsanzeichen achten: Dazu zähle das Beharren der Patient:innen auf Produkte mit hohem THC-Gehalt oder der Bezug über mehrere Verordnende. Auch dies werde im Weiterbildungscurriculum thematisiert.
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