Medizinisches Cannabis kann als zusätzliche Therapieoption verschrieben werden, aber die Evidenzlage ist dünn und eine Zweckentfremdung oft nicht ausgeschlossen. Doch mit dem Schattendasein soll jetzt Schluss sein: Nach einer erstaunlich kurzen Entwicklungszeit will der Hersteller Vertanical noch in diesem Jahr einen Extrakt als Fertigarzneimittel auf den Markt bringen. Die weltweit erste Zulassung in der Indikation chronische Schmerzen steht damit kurz bevor.
Vertanical gehört zur Firmengruppe Futrue von Dr. Clemens Fischer. Von Hause aus Arzt, hat der Unternehmer mit PharmaSGP und Synformulas zwei erfolgreiche OTC-Unternehmen aufgebaut, die die Möglichkeiten des Marketings nutzen, um Kundinnen und Kunden in die Apotheken zu lotsen. Mit Vertanical soll ihm jetzt das gelingen, was den Hexal-Gründern Thomas und Andreas Strüngmann mit Biontech geglückt ist: Er will ein innovatives Arzneimittel auf den Markt bringen, das in seiner Kategorie zu einem regelrechten Paradigmenwechsel führt.
Dabei war es zunächst noch der sondierende Blick des Unternehmers, der ihn auf das Thema aufmerksam machte: Im Manager Magazin las Fischer vor mehr als sieben Jahren einen Beitrag, in dem der Einstieg von Coca Cola in den Cannabismarkt angekündigt wurde: „Kommt jetzt die Cannabis-Brause?“
Die Überschrift passte zum Hype, der damals um Cannabis entbrannt war. Die Bewertung von Start-ups wie Aurora oder Aphria kletterte in schwindelerregende Höhen, auch Fischer überlegte, ob und wie er daran Teil haben konnte. Doch seine Analyse fiel schnell ernüchternd aus: „Die Milliardenbewertungen korrelierten einzig und allein mit der Anbaufläche. Das konnte aus meiner Sicht nicht lange gut gehen.“
Bei Pubmed stieß er dann aber doch noch auf Hunderte von Patientenberichten, in denen Ärztinnen und Ärzte eine „sensationelle“ Wirkung in der Behandlung von chronischen Schmerzen beschrieben. Nicht alle Präparate schnitten dabei gleich gut ab, Dronabinol etwa erwies sich laut Fischer als Flop. Andere Extrakte schienen vielversprechend.
Obwohl er davon ausging, dass bereits hunderte Firmen auf den Zug aufgesprungen sein müssten, zeigte sich, dass es keine einzige Schmerzstudie gab. „Das war erschreckend und erfreulich zugleich“, sagt Fischer. Nur ein einziges Unternehmen hatte sich überhaupt mit einem Fertigarzneimittel beschäftigt: GW Pharm, später für einen Milliardenbetrag von Jazz Pharmaceuticals übernommen, hatte Sativex gegen MS-bedingte Spasmen und Epidiolex gegen Epilepsie zur Marktreife gebracht.
Also stellte Fischer kurzerhand ein kleines Team zusammen und flog in die USA. In Nevada schaute sich die Truppe verschiedene Plantagen für Cannabis an; je mehr Begeisterung die Gäste zeigten, desto mehr Türen öffneten sich für sie. „Nach einer Woche wussten wir, wie man Cannabis anpflanzt.“ Vor allem aber nahm Fischer die Erkenntnis mit, dass er selbst der Eigentümer der Pflanzen sein musste: „Ohne die Rechte würde man sich nur zum Spielball machen.“
500 Genetiken wurden untersucht, ein Millionenbetrag investiert. Am Ende entschied man sich für einen Klon, der am vielversprechendsten erschien – nicht nur was den THC-Gehalt angeht, der für die Schmerzreduktion verantwortlich ist, sondern auch hinsichtlich der Terpene: Diese sind laut Fischer verantwortlich für wichtige Begleiteffekte einer Therapie, die Förderung der Schlafqualität etwa oder die Verbesserung der physischen Funktion.
Nur wo sollte man den eigenen Anbau aufziehen? In Österreich war es ganz verboten, in Deutschland musste man dann an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) liefern. In Dänemark wurden Fischer und sein Team fündig: In Kerteminde konnte Vertanical 2019 eine riesige Plantage kaufen, auf der bis dahin Rosen gezüchtet wurden.
Nachdem er sich festgelegt und die Produktionskapazitäten aufgebaut hatte, konnte der Anbau im großen Stil beginnen. In einem GMP-konformen Prozess wird ein standardisierter Vollextrakt hergestellt, der seit 2019 bereits als Rezeptursubstanz angeboten wird.
Um die Wirksamkeit von „VER01“ nachzuweisen und den Extrakt als Fertigarzneimittel vermarkten zu können, brauchte Vertanical aber noch klinische Studien. Im Mai 2021 war es so weit: Die zulassungsrelevante doppelblinde und placebokontrollierte Phase-III-Studie mit mehr als 3100 Patientinnen und Patienten in Deutschland, Österreich, Polen, Großbritannien und Spanien konnte starten.
Getestet wurde der Vollextrakt zur Behandlung von Rückenschmerzen, der häufigsten Form chronischer Schmerzen. Fischer spricht sogar von einer „stillen Epidemie“. In der Studie wurde „VER01“ nicht als Add-on, sondern als Einzeltherapie untersucht: Die Teilnehmenden mussten andere Schmerzmittel mindestens zwei Wochen vor Beginn absetzen und andere Therapien acht Wochen vorher. Die tägliche Dosis lag bei 2,5 bis 32,5 mg der öligen Lösung, die die Patienten nach eigenem Bedarf in Schritten à 2,5 mg bis zur gewünschten Wirkung nach oben titrieren konnten.
Die ersten Ergebnisse wurden am Freitag bei den Deutsche Schmerz- und Palliativtagen in Frankfurt vorgestellt, alle Resultate sollen im Fachjournal „Lancet“ publiziert werden.
Laut Fischer konnte eine klinisch relevante und statistisch hoch signifikante Schmerzreduktion gegenüber Placebo nachgewiesen werden, die bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen sogar noch höher war. Großes Potenzial sehe man auch für die Dauertherapie mit weiterer Schmerzreduktion in der Langzeitanwendung; 30 Prozent der Probanden hätten eine dauerhafte Verbesserung erlebt. Entzugssymptome seien nicht beobachtet worden, es gebe keine Anzeichen für Abhängigkeit oder Missbrauchspotenziale.
„Wir haben dieselben Entwicklungsphasen absolviert wie jedes andere Arzneimittel“, sagt Fischer stolz. „Es gab keine Erleichterungen oder Abkürzungen.“ Geholfen habe sicher die Erfahrung mit rund 90 eigenen pflanzlichen und homöopathischen Zulassungen in der Tasche sowie die Studien zu Kijimea. „Aber das war noch ein ganz anderes Niveau.“
Das eigentliche Erfolgsgeheimnis sei aber der pragmatische Ansatz gewesen. Keine endlosen Meetings, ein kleines Team, das für die Sache brannte. „Unser Credo war es, nicht aufzugeben. Wenn eine Behörde etwas für unmöglich gehalten hat, sind wir jeden Tag wieder hin, bis es endlich möglich war.“ Auch Investoren gebe es nicht: Er und Mitgründerin Madlena Hohlefelder seien nach wie vor die einzigen Gesellschafter.
Im Sommer vergangenen Jahres konnte man die Zulassungsunterlagen beim BfArM sowie beim Bundesamt in Österreich einreichen; Fischer hofft, dass er im Juli die Zulassung bekommt. Dann soll alles schnell gehen, die Markteinführung unter dem Namen Exilby ist schon für September geplant.
Aktuell wird ein Vertriebsteam aufgebaut, 30 Personen sind schon an Bord, noch einmal so viele inklusive eines erfahrenen Vertriebsleiters sollen eingestellt werden. Insgesamt beschäftigt Vertanical bereits mehr als 100 Mitarbeitende, „wir bauen massiv aus“, so Fischer.
Exilby soll schnell auch international vermarktet werden, das Team setzt auf die Anerkennung der Zulassung in anderen europäischen Märkten. Nur in den USA ist es noch kompliziert, weil Cannabis hier noch von der Drogenbehörde DEA unter Überwachung steht. Allerdings soll auch hier im kommenden Monat die zulassungsrelevante Studie starten.
Fischer ist gar nicht böse darüber. Denn da im wohl größten Markt auch kein anderer Hersteller aktiv werden kann, geht er davon aus, dass Vertanical einen weltweiten Vorsprung hat. Seine Pflanze hat er ohnehin schützen lassen, sodass in den kommenden 25 Jahren weder der Klon noch die Studienergebnisse kopiert werden können.
Ganz Unternehmer, sieht Fischer Vertanical schon als führendes Biopharmaunternehmen im Bereich chronischer Schmerzen. Schon das erste Produkt habe das Potenzial, das Leben von 500 Millionen Menschen auf der ganzen Welt zu verändern. Insgesamt litten sogar 1,5 Milliarden Menschen an einer Form von chronischen Schmerzen. Die nächste Studie bei neuropathischen Schmerzen soll ebenfalls in Kürze starten.
Und noch ein Ziel verfolgt Fischer: „Unser Extrakt soll helfen, Opioide, die mit vielen Problemen verbunden sind, weltweit zu verdrängen.“ Und wenn es gelänge, 20 Prozent der rund 200 Millionen Opioid-Verordnungen alleine in Europa und in den USA abzulösen, ergebe sich ein Umsatzpotenzial von 15 bis 20 Milliarden Dollar.