Darm-Hirn-Achse: Kopf gegen Bauch Alexandra Negt, 16.12.2019 14:46 Uhr
Der Darm ist neben der Verdauung auch an zahlreichen weiteren Stoffwechselvorgängen beteiligt. Immer mehr Studien bestätigen, dass das Mikrobiom im Darm Einfluss auf andere Erkrankungen, fern von gastrointestinalen Beschwerden, hat. Bakterienstämme im Darm scheinen Auswirkungen auf die Psyche zu haben. Das Organ wird auch „das zweite Gehirn" genannt.
Darmbakterien
Die Gesamtheit der Mikroorganismen die den Darm besiedeln werden unter dem Begriff Darmbakterien zusammengefasst. Sie sind Teil des Mikrobioms eines Menschen. Die beiden Begriffe werden häufig parallel verwendet, jedoch ist das Mikrobiom streng genommen die Gesamtheit aller Mikroorganismen (Hautflora, Scheidenflora, Mundflora). Die Bezeichnung „Flora“ beruht auf der früher vertretenen Auffassung, Bakterien gehörten zum Pflanzenreich. Heute bilden sie in der Systematik eine eigene Domäne.
Das Organ wird nicht nur von Bakterien, sondern auch von Archaeen und Eukaryoten besiedelt. Die Darmflora entwickelt sich innerhalb der ersten Lebensjahre, Neugeborene erfahren durch die Geburt die erste bakterielle Besiedlung des anfänglich „sterilen“ Verdauungstraktes. Anfangs ist die Besiedlungsdichte gering – mit steigendem Alter steigt auch die Vielfalt der Keime im Darm.
Die Nahrung beeinflusst die Entwicklung der Darmbakterien stark: Ob ein Kind gestillt wird oder Flaschennahrung bekommt, lässt sich an der Flora erkennen. Gestillte Kinder weisen hauptsächlich Bifidobakterien und Laktobazillen auf. Die von ihnen produzierte Milchsäure führt zu einer Ansäuerung des Darmmilieus – pathogene Bakterien können sich erschwert ansiedeln.
Darm-Hirn-Achse
Forscher weltweit untersuchen den Einfluss des Darms auf den Menschen: Studien legen nahe, dass die Darmflora Einfluss auf das Denken und Fühlen nimmt. Wissenschaftler nehmen an, dass der Zustand der Darmflora im Zusammenhang mit der Stimmung steht. Um die genauen Zusammenhänge zu verstehen, versuchen Wissenschaftler herauszufinden, wie beide Organe miteinander „kommunizieren”.
Die aktuelle Forschung lässt vermuten, dass die Kommunikation über die Darm-Hirn-Achse in beide Richtungen abläuft: Ein Weg erfolgt über Nervenverbindungen im Rückenmark. Ein anderer Weg ist der über den zehnten Hirnnerv, den Nervus vagus. Dieser verläuft vom Hirnstamm zum Verdauungsapparat und ist an vielen Regulationsvorgängen im Gastrointestinal-Trakt beteiligt.
Ebenfalls an der Mikrobiom-Kommunikation beteiligt ist das enterische Nervensystem (ENS). Hierbei handelt es sich um ein Geflecht von Nervenzellen, welches die Darmwand durchzieht. Im ENS werden Neurotransmitter, die von Darmmikroorganismen synthetisiert wurden, durch Chemosensoren wahrgenommen. Hierdurch können sie über den Nervus vagus mit dem Gehirn kommunizieren. Neurotransmitter wie GABA und Dopamin scheinen ebenfalls an der Reizweiterleitung beteiligt zu sein. Die Darmbakterien selbst produzieren auch Stoffe, die an der Kommunikation beteiligt sind.
Studienlage
In Tierversuchen konnte die Bedeutung der Darm-Hirn-Achse bestätigt werden: Transplantiert man keimfreien Mäusen Darmbakterien kranker Menschen, entwickelten die Nager sowohl Symptome der Darmkrankheit als auch ängstliches Verhalten. Das zeigt, dass eine gestörte Darmflora nicht nur die Folge eines durch andere Faktoren ausgelösten Reizdarms ist. Das Experiment bestätigte, dass Darmkeime spezielle Hirnfunktionen beeinflussen können. Sie können zu neurologischen Erkrankungen und psychischen Störungen beitragen.
Drei Wochen nach der Transplantation hatten die Tiere mehrere Symptome eines Reizdarms entwickelt: Die Darmpassage der Nahrung war beschleunigt, die Barrierefunktion der Darmwand war geschädigt und Entzündungsreaktionen traten verstärkt auf. Es konnte beobachtet werden, dass Mäuse, die den Kot von Angstpatienten erhielten, selber ein stärker ausgeprägtes ängstliches Verhalten entwickelten.
Wissenschaftler vermuten, dass die Entstehung chronischer Krankheiten vom Darmbiom ausgehen kann. Ein Beispiel ist der Einfluss der essentiellen Aminosäure Tryptophan auf chronisch-entzündliche Erkrankungen. Wissenschaftler des Instituts für klinische Molekularbiologie in Kiel konnten zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen Tryptophan und der Entstehung von Multipler Sklerose (MS) besteht. „Durch das Weglassen der Aminosäure Tryptophan verändert sich die Zusammensetzung der Darmbakterien, die ein bisher unbekanntes Signal an die Immunzellen senden“, so die Forscher. Dadurch könnte die Entstehung von MS verhindert werden. Welche Mechanismen genau hinter dieser Art der Informationsweiterleitung stecken konnten die Wissenschaftler bisher nicht klären.