PTA überführte Pfusch-Apotheker APOTHEKE ADHOC, 29.06.2017 15:05 Uhr
Gerüchte gab es schon lange, doch es brauchte den ganzen Mut zweier Mitarbeiter, um den mutmaßlichen Zyto-Pfusch von Apotheker Peter S. zur Anzeige zu bringen. Reportern des Recherchezentrums Correctiv und des ARD-Magazins Panorama ist es gelungen, die Kronzeugen zu interviewen. Der Beitrag unter dem Titel „Lebensgefährliche Gier – Chemotherapien ohne Wirkstoff“ wird heute Abend um 23.30 Uhr ausgestrahlt.
Der wichtigste Zeuge im anstehenden Prozess ist Martin Porwoll. Er begann laut Correctiv-Bericht 2014 als kaufmännischer Leiter in der Alten Apotheke – einem der wichtigsten Arbeitgeber in Bottrop mit rund 90 Mitarbeitern. S. war ein Freund der Familie, beide besuchten dasselbe Gymnasium. „Als ich in der Apotheke anfing, hörte ich immer wieder Gerüchte von Kollegen, dass Peter Infusionen zu niedrig dosiere“, so Porwoll gegenüber Correctiv. Anfangs habe er das abgetan, doch als er mitbekam, dass S. gegen grundlegende Hygienevorschriften verstieß, kamen die Zweifel.
Die Staatsanwaltschaft Essen hatte laut Correctiv bereits 2014 Hinweise auf krasse hygienische Mängel und auf Unterdosierung in der Alten Apotheke: Ein früherer Fahrer der Apotheke hatte sich damals bei den Ermittlern gemeldet. Auf Basis seiner Angaben ließ sich aber kein Durchsuchungsbeschluss erwirken – zumal seine Ehefrau, die im Labor arbeitete, seine Angaben nicht bestätigte.
Als Mitte 2015 Opdivo (Nivolumab, Bristol-Myers Squibb) auf den Markt kam, begann Porwoll, die Abrechnungen mit den Einkaufslisten abzugleichen. Die Zahlen passten nicht, wichen um den Faktor 3 ab: 16.420 mg hatte S. eingekauft, 52.174 mg abgerechnet. Der Gewinn: verachtzehnfacht. Bei Xgeva (Denusomab, Amgen) „streckte“ S. seinen Gewinn von 166.000 auf 1,25 Millionen Euro.
Porwoll ging zur Polizei und erstattete Anzeige. Die ersten Gespräche seien kein Zuckerschlecken gewesen. „Aber da muss man durch“, erinnert sich Porwoll gegenüber dem Portal „Wir lieben Bottrop“. Die schlimmsten Wochen für ihn persönlich seien die gewesen, als klar war, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnimmt.
Während die Staatsanwaltschaft Essen auf den Durchsuchungsbeschluss hinarbeitete, offenbarte sich auch Marie-Elisabeth Klein der Polizei. Die PTA stellt seit 17 Jahren Infusionslösungen her – und brachte den entscheidenden Beweis mit.
Klein war zu einer Besprechung in einer onkologischen Praxis, als eine Sprechstundenhilfe sie bat, eine Infusionslösung mit zurück in die Apotheke zu nehmen: Der Patientin ging es zu schlecht, die Therapie musste abgesagt werden. „Dieses Präparat hätte schäumen müssen, Antikörper sind große Proteinmoleküle, das müssen Sie sich vorstellen wie mit einem Tropfen Pril im Wasserglas, da lässt die Oberflächenspannung nach“, erklärt Klein. Als sie den Beutel leicht schüttelte, schäumte gar nichts. „Also habe ich unter den Stopfen geschaut, mit dem solche Infusionen geschlossen werden. Das ist die Stelle, wo der Wirkstoff eingespritzt wird. Und dieser Stopfen war unverletzt. Das heißt, da ist nichts zugeführt worden.“
Klein brachte den Beutel zur Polizei. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) teilte später in seinem Abschlussbericht mit: In dem Beutel war kein Wirkstoff. Es war eine reine Kochsalzlösung, die als Krebsmedikament einer schwerkranken Frau verabreicht werden sollte.
Porwoll war dabei, als die Apotheke im vergangenen November durchsucht wurde. Er habe sich nichts anmerken lassen dürfen. „Ein schwerer Moment, aber auch sehr befreiend.“ Ein paar Tage später wurde er einbestellt. „Nach diesem Anruf war klar: Okay, jetzt wissen sie es, jetzt wissen sie dass ich es war.“ Man hätte sprechen und intern eine Lösung finden sollen, zitiert Porwoll gegenüber „Wir lieben Bottrop“ aus diesem Gespräch. Man sei enttäuscht über diese Form der Illoyalität. Vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen verlor er vor Kurzem seinen Job.
„Mir sind als erstes die krassen Hygiene-Mängel aufgefallen“, erinnert sich Klein gegenüber Correctiv an die Zeit vor der Festnahme. „Peter S. ging mit Straßenkleidung ins Reinraumlabor, in Sakko und Hemd.“ Und: „S. arbeitete oft freihändig – außerhalb der Werkbank.“ Die PTA fand regelmäßig große Mengen Hundehaare beim Säubern des Labors. Porwoll will den Golden Retriever Grace sogar im Reinraumlabor gesehen haben.
Das Vier-Augen-Prinzip bei der Zubereitung habe S. wissentlich gebrochen: „Du gehst jetzt mal raus hier“, sei ein Satz gewesen, der häufig gefallen sei. „Die Kollegen sagten dann nur: ‚Der Chef geht wieder spielen.‘“
S. habe oft am Wochenende gearbeitet oder frühmorgens, bevor die anderen Mitarbeiter zur Arbeit gekommen seien. Klein wunderte sich, wie es ihm gelang, ein Vielfaches der Infusionen zuzubereiten, die andere Laborkräfte in derselben Zeit nicht schafften. „Er sagte mir einmal, er sei eben der schnellste Zubereiter in Deutschland, das habe er während seiner Zeit bei der Bundeswehr gelernt.“
Laut Correctiv gibt es mutmaßliche Verstöße bei deutlich mehr als jenen fünf Wirkstoffen, die Porwoll durchgerechnet hatte. „Wir befassen uns in diesem Verfahren mit ungefähr 50 verschiedenen Medikamenten“, sagt Staatsanwältin Annette Milk. Darunter befänden sich Zytostatika und Antikörper, aber auch Begleitmedikationen, die die Nebenwirkungen abmildern sollen. „Bei dieser Vielzahl von Medikamenten taucht immer wieder auf, dass der Apotheker nach unserem bisherigen Erkenntnisstand signifikant weniger Material eingekauft hat als er abgegeben haben will. Wir reden hier über signifikante Unterschiede, das heißt, es geht hier nicht um Unterdosierungen von wenigen Prozent, die sowieso auch schon mal bei der Herstellung anfallen können und die auch gar nicht als bedenklich angesehen werden, sondern es geht hier um Unterschiede von 20 zu 80 Prozent bei einzelnen Medikamenten.“
Schwierig sei die Beweisführung: „Wir wissen nicht, wie der Apotheker seine Gunst oder Ungunst verteilt hat“, so Milk gegenüber Correctiv. „Hat er zum Beispiel montags bis mittwochs immer ordnungsgemäß die Medikamente verteilt und am Rest der Woche nicht? Oder hat er Männer bevorzugt, Frauen benachteiligt? Hat er junge Leute bevorzugt, Alte benachteiligt? All das wissen wir nicht und das aufzuklären, ist extrem schwierig.“
Milk und ihre Kollegen gehen von 50.000 einzelnen Verschreibungen aus, bei denen S. betrogen haben könnte. Allerdings verfolgen sie nur Taten ab 2012, damit keine Einzeltaten während der Prozesse verjähren. Die Alte Apotheke hatte aber seit 2001 ein Reinraumlabor für Krebsmedikamente. Es könnten also noch deutlich mehr Patienten betroffen gewesen sein als bisher angegeben.
Dazu kommt, dass S. auch Prüfmedikationen hergestellt hat: Bisher seien mindestens 30 klinische Studien identifiziert worden, deren Teilnehmer mit Medikamenten aus der Bottroper Apotheke beliefert wurden, zitiert Correctiv einen Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittelsicherheit (BfArM). Betroffen seien Untersuchungen mit mindestens 25 Wirkstoffen. Beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) könnten vier weitere Prüfungen betroffen sein, mit zwei Antikörpern und einer „chemisch-definierten Prüfsubstanz“.
„Wir müssen verhindern, dass solche Daten in Zulassungsverfahren für neue Medikamente eingebracht werden, und werden deshalb nach Auswertung der Antworten alle europäischen Zulassungsbehörden informieren“, so der BfArM-Sprecher. Derzeit gehe man nicht davon aus, dass verfälschte Daten Eingang in frühere Zulassungsstudien gefunden hätten.
Schon nach der Festnahme von S. wurden Rufe nach schärferen Kontrollen laut. Porwoll hatte sich nämlich auch bei der Staatsanwaltschaft gemeldet, weil ihm die Kontrollen durch die Amtsapotheker wirkungslos vorkamen. Eugen Brysch, Vorstand der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“ in Dortmund, fordert gegenüber Correctiv unangekündigte Besuche, eine kaufmännische Kontrolle mit Plausbilitätsprüfung und stichprobenartige Überprüfungen des Gehalts.
Die Staatsanwaltschaft will demnächst Anklage erheben. Weil er dringend tatverdächtig ist und Fluchtgefahr besteht, bleibt S. solange in Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht Hamm (OLG) gab einem Antrag der Staatsanwaltschaft vor Kurzem statt. Parallel bereiten Patienten ihre Klagen auf Schadenersatz vor.