Es ist ausgerechnet der Abend der Weihnachtsfeier, als Apotheker Johannes Falkner klar wird, dass er betrogen wurde. Und von wem. Plötzlich steht er vor einer menschlichen Tragödie und einem Schaden von knapp 140.000 Euro. Um Kollegen vor ähnlichem Unglück zu bewahren, schildert er die Vorgänge ausführlich gegenüber APOTHEKE ADHOC. Nur mit seinem echten Namen genannt werden möchte er nicht.
Als sich die Betriebsergebnisse seiner Apotheke innerhalb kurzer Zeit spürbar verschlechtern, begibt sich Falkner auf Spurensuche. Schnell ist klar, dass das Problem im Einkauf liegt. Die Großhandelsrechnungen des Hauptlieferanten passten nicht zu den Überweisungen des Rechenzentrums.
Er sucht, natürlich, zuerst bei den Hochpreisern. Und er wird schnell fündig. Zu einem Wachstumshormon Genotropin (Somatropin, Pfizer) gibt es keinen Verkauf. Der Beleg ist von einer Mitarbeiterin abgezeichnet. Es ist eine von Falkners besten Kräften, eine junge PTA. Der Apotheker lässt sich Bezugsnachweise von seinem Großhändler kommen und erhält eine erschreckende Liste: In etwa 50 Fällen wurden Wachstumshormone bestellt, in vier Fällen hat die PTA mit Einzellieferscheinen Spuren hinterlassen. Alle anderen wurden vernichtet, was eine Prüfung natürlich erschwert.
Die nächsten drei Tage arbeitet Falkner durch, vergleicht Bestellungen, Buchungen, Abgabevorgänge, den Bestand – und die Dienstpläne der mehr als 50 Mitarbeiter in allen drei Filialen. Kurz vor Weihnachten hat er Gewissheit: Bei allen Genotropin-Bestellungen war entweder die PTA oder ihre ebenfalls im Apothekenverbund beschäftigte Schwester im Dienst. Die Vorfälle erstrecken sich maßgeblich einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten und über drei Filialen. Als Falkner eine der Schwestern auf ein fehlendes Wachstumshormon anspricht, hören die Bestellungen sofort auf.
Natürlich fragt sich der Apotheker, wie ihm das Ganze entgehen konnte. Seine Erklärung klingt menschlich: „Für manche Dinge ist man blind, weil man sie sich nicht vorstellen kann oder will.“ Seine betriebswirtschaftliche Analyse bekommt er mit drei Wochen Verzug, was schon eher schnell ist. Trotzdem wird er nicht mehr bei jeder scheinbaren Unregelmäßigkeit panisch. Mit extrem teuren Präparaten wie dem Hepatitismittel Harvoni kann sich leicht ein fünfstelliger Umsatz in einen anderen Monat verschieben.
So absurd es klingt: Der Verlust von 60.000 Euro in einem einzelnen Monat, verteilt auf drei Apotheken, musste den Inhaber nicht sofort in Alarmbereitschaft versetzen. Denn erst wenn die Rechnung des Großhandels kommt, merkt man, was auf dem Konto fehlt. „Als Berufsanfänger lief ich jedem fehlenden Euro hinterher. Das musste ich auch, um das System zu verstehen“, so Falkner. „Inzwischen bin ich gelassener: Bei höheren sechsstelligen Bestellsummen im Filialverbund können solche Verschiebungen vorkommen. Monatliche Liquiditätsschwankungen von bis zu 100.000 sind je nach Steuerzahlungen oder Sonderzahlungen, Kundenaufkommen und hochpreisigen Medikamenten nicht ungewöhnlich.“
Nur dass sie in diesem Fall eben keinen plausiblen Grund hatten, sondern das Ergebnis eines dreisten Diebstahls waren. Das Vorgehen lässt sich rekonstruieren: Die Ware wurde über MSV3 elektronisch beim Großhandel bestellt. Anschließend wurden diese Artikel aus der Bestellung gelöscht, so dass sie bei der Warenannahme nicht mehr aufgerufen wurden. Die Täterinnen takteten ihre Bestellungen so, dass eine von ihnen immer in der jeweiligen Filiale war, wenn die Sendung ankam. So ließen sie die Packungen verschwinden.
Doch die Logfiles in der Software zeichnen alles auf, auch jeden Löschvorgang. Allein in einem Monat wurde das Wachstumshormon im Gegenwert von 60.000 Euro bestellt. Insgesamt, das ergeben Falkners Recherchen, wurden in den wenigen Monaten 53 Packungen Wachstumshormone für 133.000 Euro und 83 Klinik-Packungen Testosteron im Wert von 4000 Euro bestellt.
Falkner überlegt, ob er die Sache selbst regeln soll oder die Polizei verständigen muss. „Mir wurde klar, dass ich das alles auch dem Fiskus erklären muss – und das am besten mit Aktenzeichen.“ Also erstattet er Anzeige – am Tag vor Heiligabend. Die Kripo rückt drei Wochen später an. Falkner wird vorab informiert, die Beamten sind sehr professionell. Sie kämen zu viert und in Zivil, mit zwei Wagen, kündigen sie dem Inhaber an. Sie würden um die Ecke parken, um den Betrieb nicht zu stören.
Der Apotheker bittet die Polizisten in den Beratungsraum, dann holt er seine Angestellte dazu. Die streitet gegenüber ihrem Chef zunächst alles ab, schließlich übernehmen die Beamten die Führung der Befragung. „So ein Gespräch ist nicht schön. Da sitzt die eigene Mitarbeiterin, die man ausgebildet und liebgewonnen hat und am Ende liegt da nur noch ein weißer Kittel in dem Sessel“, berichtet Falkner von diesem besonderen Erlebnis.
Als einer der Polizisten der jungen Frau mitteilt, sie sei vorübergehend festgenommen, klingt das für Falkner wie im Film. Während eine Beamtin sich mit Gummihandschuhen versieht und die Leibesvisitation übernimmt, durchsuchen die anderen das Auto der PTA. Ihr Handy wurde vorab konfisziert. So kann sie ihre Schwester nicht warnen, die wenig später zu Hause verhaftet wird. Die Polizisten werden an verschiedenen Stellen fündig.
Wachstumshormone werden in der Bodybuilderszene missbräuchlich eingesetzt. Die PTA hat die Präparate für ihren damaligen Freund geklaut, der die Mittel vermutlich weiterverkauft hat. Denn für eine Person allein war die beschaffte Menge viel zu groß. Ihm wird im April der Prozess gemacht.
Die Schwestern wurden vom Amtsgericht München wegen unerlaubtem Inverkehrbringen von Arzneimitteln zu Dopingzwecken zu Bewährungsstrafen von einem Jahr und acht Monaten beziehungsweise acht Monaten verurteilt. Als Bewährungsauflage müssen sie 350 beziehungsweise 150 Euro monatlich für die Dauer der dreijährigen Bewährung an den Apotheker zahlen.
Auf dem eigentlichen wirtschaftlichen Schaden wird Falkner wohl sitzen bleiben. Ohne Überbrückungskredit hätte ihm seinerzeit fast die Zahlungsunfähigkeit gedroht. „Das hat mir fast den Verstand geraubt“, so der Apotheker. Die beiden PTA werden das Geld kaum zurückzahlen können. Womöglich droht der Haupttäterin sogar der Entzug der Berufserlaubnis als PTA. Die erste Entschuldigung hat Falkner vor Gericht von ihnen gehört, nach mehr als zwei Jahren.
Was dem Apotheker wichtiger war: Dem Team reinen Wein einzuschenken und es „aus der Schockstarre“ zu holen. Er hat alle Mitarbeiter gebeten, möglichst schnell zum Alltag zurückzukehren: „Mich mit einem Lächeln zu begrüßen, das hilft mir am meisten“, hat er ihnen gesagt. Den Kunden gegenüber freundlich sein wie immer. Nur das werde helfen, das verlorene Geld wieder reinzuholen. „Psychologisieren oder Schuldzuweisungen bringen überhaupt nichts“, so Falkner. „Mein Team ist mit der Situation absolut toll umgegangen und hat mir wieder Hoffnung gegeben“, sieht der Inhaber das Positive.
Trotzdem hat er auf die Vorkommnisse reagiert und die Sicherheitsvorkehrungen in seinen Apotheken erhöht. Bei jedem Bestands- oder Geld-relevanten Vorgang kommen zum Beispiel jetzt Fingerabdruckscanner zum Einsatz. „Für das verlorene Geld hätte ich mir viele Fingerprint-Scanner kaufen können“, weiß Falkner heute.
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