Das Antidepressivum Venlafaxin ist momentan eingeschränkt bis gar nicht lieferfähig. Abfragen in der Apotheke verlaufen oft ergebnislos – nur das Original Trevilor (Pfizer) ist über den Großhandel erhältlich. Kunden, die die Mehrkosten von 240 Euro nicht zahlen wollen oder können, bleiben unversorgt und müssen auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) besteht kein absoluter Versorgungsengpass. Weshalb können Apotheken dennoch keine Packungen beziehen? Die Ursache könnte vergleichsweise trivial sein.
Millionen von Menschen sind aktuell von Lieferengpässen betroffen – so auch Patienten, die das Antidepressivum Venlafaxin einnehmen. Seit Monaten können die Hersteller nicht liefern. Aktuell ist die Lage besonders gravierend: Eine tagesaktuelle Verfügbarkeitsabfrage in einer nordrhein-westfälischen Apotheke bei drei verschiedenen Großhändlern fällt ernüchternd aus – kein einziges Generikum ist lieferbar. „Lediglich das Original Trevilor mit Mehrkosten von 244,15 Euro ist im Verbund zu bekommen“, so der Inhaber. Außerdem gibt es einen Reimport – hier beläuft sich die Aufzahlung auf 54,73 Euro. „Die meisten Kunden zahlen diese Mehrkosten nicht.“ Hier bleibt nichts anderes übrig als der Gang zum Arzt. Einige Patienten können gut auf andere Wirkstoffe umgestellt werden. Das gilt jedoch nicht für alle.
Der Generikahersteller Heumann besitzt – aufgrund der Rabattverträge – einen Marktanteil von über 50 Prozent. Vor einigen Monaten kam es zu Lieferschwierigkeiten. Zu den Hintergrründen wurden auf Nachfrage keine Angaben gemacht. Der Apotheker aus NRW erhielt von einer Angestellten bei Heumann telefonisch die Antwort, dass die Ursache für den Ausfall Probleme mit dem Securpharm-Siegel sind. Ein Sprecher wollte dies auf Nachfrage offiziell nicht bestätigen.
Die anderen Generikahersteller konnten den Ausfall des Marktführers nur kurzfristig abfedern, da die Absätze sprungartig anstiegen. So dauerte es nicht lange, bis Aristo, immerhin ein Rabattpartner bei der TK, trotz ausreichender Mengen völlig ausverkauft war. Inzwischen hat der Hersteller wieder Ware, aber auch diese wird wohl schnell wieder vollständig vom Markt aufgesogen werden.„Solange es uns nicht möglich ist die Mengen für unsere Krankenkassen zu reservieren, wird es unweigerlich zu derartigen Szenarien kommen“, so Dr. Stefan Koch, Vorsitzender der Geschäftsführung. „Aus unserer Sicht und im Interesse der Versorgung dürfen – selbst bei kleinen Märkten – Wirkstoffausschreibungen niemals mit weniger als drei Zuschlägen belegt werden.“
Ähnlich sieht es bei Hennig Arzneimittel aus: Angesichts des überschaubaren Marktanteils beim Wirkstoff Venlafaxin wird der Warenbestand grundsätzlich gering gehalten. „Aufgrund der Vorlaufzeit und anderer organisatorischer Faktoren innerhalb der Produktion bricht eine Planung bei einem mittelständischen Unternehmen schnell auseinander, wenn einzelne Firmen mit hohem Marktanteil ausfallen“, erklärt Dr. Tom Waldmüller, Leiter Rx-Marketing. Auch in Flörsheim zeichnete sich ab, dass die Umstellung auf Securpharm ein Kraftakt werden würde. „Wir bei Hennig haben eine passend zum Securpharm-Start eine neue Halle zur Konfektionierung errichtet. Alleine die Verpackungslinie wurde um drei bis vier Meter erweitert, um alle Bedruckungen und das Siegel anzubringen.“
Bei Stada führt man die aktuellen Lieferengpässe auf die bekannte Problematik der seit Jahren andauernden Reduzierung und somit Konzentration von Wirkstoffherstellern zurück. „Um die Lieferfähigkeit zu gewährleisten, kommt bei uns eine so genannte 2nd-Source-Strategie zum Einsatz. Diese hat zum Ziel, für alle wichtigen Wirkstoffe mindestens zwei qualifizierte Lieferquellen zu haben“, so eine Sprecherin.
Die Lieferprobleme bei Venlafaxin betreffen alle Generikahersteller. Auch Direktbezüge sind nur eingeschränkt möglich. In den sozialen Medien ist das Antidepressivum täglich ein Thema: Apotheken berichten freudig über den Erhalt weniger Packungen oder rufen ganz offen ein Gesuch aus.
Das Problem ist keineswegs nur theoretischer Natur: 2018 wurden laut Arzneiverordnungsreport rund 200 Millionen definierte Tagesdosen (DDD) Venlafaxin verordnet; damit liegt der Wirkstoff unter den SSNRI weit vor Duloxetin (80 Millionen DDD) und Milnacipran (3 Millionen DDD). Häufiger eingesetzt werden nur Wirkstoffe aus der Gruppe der SSRI (690 Millionen DDD), darunter Citalopram (260 Millionen DDD), Sertralin (170 Millionen DDD) und Escitalopram (135 Millionen DDD). Trizyklischen Antidrepressiva wie Amitriptylin und Opipramol kommen auf 240 Millionen DDD, Mirtazapin auf 185 Millionen DDD. Anders ausgedrückt: Mit 2,2 Millionen Verordnungen liegt Venlafaxin auf Platz 52 der 100 verordnungsstärksten Wirksstoffe – vor Wirkstoffen wie Fentanyl, Betamethason und Escitalopram, die alsversorgungsrelevant gelistet sind.
Bei Patienten, die nicht umgestellt werden können, wird mitunter folgende Lösung geboten: Da die retardierte Form von Venlafaxin innerhalb der Kapseln in Pellet-Form vorliegt, können die Kapseln geöffnet und aufgeteilt werden. Der Arzt verschreibt also ein stark dosiertes Präparat – hier sind die Chancen auf eine Lieferung noch am höchsten. Lege artis ist dieser Ansatz freilich nicht.
Manchmal sehen sich Patienten aber auch gezwungen, die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Madeleine Elze, Verkäuferin aus Lüneburg, wurde im Herbst in drei Apotheken vertröstet. In einem Forum entdeckte sie den Hinweis, die Retardkapseln à 150 mg zu öffnen und je ein Pellet in eine neue Gelatinekapsel zu stecken. Nach einiger Suche konnte sie mit einem neuen Rezept tatsächlich eine Packung ergattern – sodass sie quasi einen Jahresvorrat hat.
„Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich mir das im Internet selbst zusammenschustern musste. Das kommt mir absurd vor. Die haben das doch studiert, nicht ich!“ Vor sich selbst habe sie die Situation, ihre Medikation allein zu organisieren, als demütigend empfunden. „Ich habe mich gefühlt wie ein Junkie, der seinen Stoff braucht“, sagt sie. Hinzu kämen die Ursachen und Zusammenhänge, die zu den Lieferengpässen führen: Nichts sei ihr dazu erklärt worden, warum sie ihre Medikamente nicht erhält. „Stattdessen haben sie einfach in den Computer geschaut und mir gesagt, ich soll nochmal meinen Arzt fragen.“
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