Umgang mit peinlichen Situationen Alexander Müller, 14.10.2021 11:02 Uhr
Scham und Tabus gehören zum Apothekenalltag. Meistens wissen die Teams gut damit umzugehen, aber es gibt immer wieder peinliche Momente – auf beiden Seiten des HV-Tischs. Coach und Therapeutin Stefanie Rieth aus Augsburg erklärt im Gespräch mit APOTHEKE ADHOC woran das liegt und verrät die besten Strategien.
„Krankheit hat mit Vergänglichkeit zu tun – und die ist für uns letztendlich schambesetzt: alt werden, krank sein, nicht zu funktionieren in dieser Leistungsgesellschaft“, so Rieth. In der Apotheke sei das Thema zwangsläufig gegeben: „Hier lässt man jemand Fremden sehr nah in ‚seinen Tanzbereich‘ rein.“ In medizinischen Bereichen sei die Einhaltung des Abstands oft nicht gegeben, „dann ist die Hose halt unten“. Umso wichtiger sei es, dass Apotheker:innen und PTA nicht in die Übertragung gingen, sondern dem Gegenüber signalisierten: Ich bin hier die Fachperson. Mit Fachkompetenz und einer offenen Kommunikation könne man den Kund:innen schon viel Schamgefühl nehmen, so Rieth.
Das gelingt laut der aposcope-Befragung nach eigener Einschätzung den meisten auch ganz gut. Deutlich häufiger schämen sich Apotheker:innen und PTA aber für Kolleg:innen oder Chef:in. Rieth zufolge hat das wieder mit dem „Tanzbereich“ zu tun – ein anderer übertritt eine Grenze, vor der man selbst zurückschrecken würde.
Zum Podcast: Tabuthemen: Blankziehen in der Apotheke
Aber wieso schämen wir uns eigentlich? Woher kommt das und wofür ist sie vielleicht auch gut? „Da wo Scham anfängt, sind persönliche Grenzen, die wir aus Erfahrungswerten setzen, aus dem, was uns ausmacht. Natürlich gibt es dabei auch kulturelle Dinge, aber die Grenze ist trotzdem individuell und bei jedem anders. Und hinter der Scham liegt ganz oft ein verstecktes Gefühl oder ein versteckter Konflikt – oft Angst, aber auch Ohnmacht, ganz rudimentäre Gefühle, die sich über die Scham gesellschaftsfähig machen.“ Diese gesellschaftliche Schamgrenze wiederum verschiebe sich über die Zeit, so Rieth mit Verweis etwa auf die Frauenbewegung der 70er-Jahre. Es brauche immer Menschen, die über den Tellerrand schauen.
Rieth orientiert sich in ihrer Arbeit an der personenzentrierte Gesprächspsychotherapie des Psychologen und Psychotherapeuten Carl Rogers. „Das kann man auf jede Gesprächssituation übertragen: Sei empathisch, sei kongruent zu deinen Gefühlen und einfach akzeptierend und wertschätzend zu deinem Gegenüber, egal welche Meinung da zugrunde liegt.“
Bei einer aposcope-Umfrage sagten fast alle Teilnehmer:innen, dass einem in gesundheitlichen Fragen eigentlich nichts peinlich sein muss. Trotzdem lassen sich einige von dem Schamgefühl ihrer Kund:innen anstecken. Dann ist offene und wertschätzende Kommunikation umso wichtiger, erklärt Rieth. Ihr Vorschlag: „Ich verstehe, dass das jetzt für Sie gerade eine unangenehme Situation ist, aber kommen Sie, das machen wir jetzt schnell zusammen.“
In einer Frage kann die Therapeutin die Apothekenteams beruhigen: Es ist okay, nachher über den Vorfall zu lachen, auch im Team: „Das ist ein Filter, den brauchen wir. Jeder Input braucht Output. Und mit Humor macht man die Dinge leichter.“ Eine Beobachtung aus der aposcope-Befragung kann Rieth aus ihrer eigenen Praxis bestätigen: Frauen gehen viel offener mit schambesetzten Themen um als Männer. Auch das habe viel mit dem Leistungsgedanken zu tun.