Revoice of Pharmacy: Auf den Spuren von Bowie und U2 Enrico Blasnik, 08.07.2016 12:04 Uhr
Um das Gebäude im Herzen von Berlin ranken sich Mythen und Legenden – wie es sich für das Musikgeschäft gehört. Die Hansa-Tonstudios am Potsdamer Platz haben jede Menge Geschichten zu erzählen. Seit Jahrzehnten geben sich hier Stars und Sternchen die Klinke in die Hand. Aus aller Welt kamen und kommen sie in die Köthener Straße 38 und nehmen ihre Hits auf: David Bowie, Pharrell Williams oder Iggy Pop. Sie hinterlassen ein Stück Musikhistorie – und manchmal erstaunliche und skurrile Anekdoten. Für die fünf Gewinner des Wettbewerbs Revoice of Pharmacy wird hier vom 9. bis 11. September ein professionelles Vocal-Coaching mit dem Musikproduzenten Nik Hafemann stattfinden.
Alexander „Alex“ Wende könnte stundenlang Geschichten über das Haus erzählen. Er leitet seit 1998 als Studiomanager die Hansa-Tonstudios. Anfang der 1990er Jahre begann er hier als Student zu arbeiten. „Irgendwann wurde ich von den Gründern gefragt, ob ich Lust hätte, die Studios zu betreuen. Irgendwie wurde ich da hineingezogen“, sagt Wende. Nebenbei produziert der 44-Jährige Musik in der dritten Etage, in einem kleinen Studio. Er arrangiert, komponiert und arbeitet als Tonmeister eng mit den Stars zusammen. „Total geil“ findet er die Idee von Revoice of Pharmacy – „vor allem, weil die Pharmazeuten dann die Chance haben, zu sehen, wie es in einem Tonstudio so abläuft“.
David Bowie war offenbar am Boden zerstört und in einer „existenziellen Sinnkrise“, als er 1977 nach Berlin kam und den Weg in die Tonstudios fand. Eines Tages soll er vom zweiten Stock aus auf die Berliner Mauer geschaut haben. Der Anblick inspirierte ihn zum weltberühmten Song „Heroes“. Insgesamt nahm Bowie drei Studioalben in dem damals vom Krieg teilweise zerstörten Gebäude auf. „Weit und breit stand hier kein einziges Haus, es gab viel Platz für Kreativität“, sagt Wende.
Die Rockgrößen von „U2“ sollen Ende der 1980er Jahre sogar kurz vor der Bandauflösung gestanden haben; Bono & Co. versuchten es ein letztes Mal miteinander: „Hier haben sie dann die Hitsingle 'One' aufgenommen. Der Song hat alles verändert! Bono hat begonnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen; half dann in Afrika beim Bauen von Krankenhäusern und so weiter“, so Wende.
Die deutschen Rocker „Einstürzende Neubauten“ machten – wenn der Mythos stimmt – ihrem Namen alle Ehre. Die Bandmitglieder klauten von der gegenüberliegenden Baustelle einen Rüttelstampfer. Das Baugerät wird zum Ebnen und Verdichten von Böden verwendet. Die Musiker schleppten die Maschine in den zweiten Stock der Studios und ließen sie über das Parkett laufen. Ihnen soll der „wuchtige Sound“ gefallen haben. „Da ist natürlich immer eine Menge Alkohol und Anderes im Spiel“, scherzt Wende.
„Am schlimmsten finde ich die Leute, die um die Stars herumschwirren, die nerven wirklich“, sagt Wende. Zum Beispiel hat der Produzent einmal erlebt, wie der Manager von Topmodel Naomi Campbell lautstark am Mobiltelefon eine Boeing 747 für sich bestellte, während in diesem Moment ein Lied aufgenommen wurde. Auch beim japanischen Rockmusiker Tomoyasu Hotei war die Entourage für den Studiomanager nervenaufreibend. „Die wollen ständig Termine kurzfristig verschieben und sagen dir, wann er wann in welchem Hotel zu sein hat.“ Die Künstler selbst seien aber meist umgängliche und freundliche Personen.
Groß geworden sind die Studios mit Schlager-Platten. Die wurden laut Wende früher an einem Tag aufgenommen. „Zwei Wochen später waren sie dann in den Charts.“ Heute dauere es ein wenig länger. Die Hansa-Tonstudios bieten modernstes Equipment: Rechnergesteuerte Mischpulte, Hallgeräte, Monitore, digitale Aufnahmegeräte, Kompressoren und allerlei Musikinstrumente – darunter ein Flügel von „Steinway“. Von der Regie aus hat man direkte Sicht in den Aufnahmeraum. Bei trockener Akustik nehmen hier heutzutage Schlagerstars wie Roland Kaiser, Peter Maffay und Nick Cave ihre Alben auf.
Das Tonstudio im vierten Stock verfügt außerdem über einen „Marble Room“, einem mit italienischem Marmor verkleideten Raum für eher ungewöhnliche Sounds. Das Drumset-Intro von Phil Collins‘ „In the Air Tonight“ soll zum Beispiel in so einer Kabine entstanden sein. Die „Vocal Booth“ als kleine Aufnahmekabine komplettiert die Räumlichkeiten. Sieben Studios gab es vor der Sanierung Anfang der 1990er Jahre im Haus. Zu diesem Zeitpunkt war die Musiktechnik längst computerisiert und die Preise zur Nutzung – verglichen mit anderen europäischen Studios – relativ erschwinglich, sagt Wende.
Ein wahres Highlight ist der Meistersaal im zweiten Stock. Er wird auch „The Big Hall By The Wall“ genannt. Der Raum diente vor dem Krieg als Tanzsaal für SS-Offiziere und ihre Begleitungen. „Adolf hat hier schon seine Teetänze veranstaltet“, so Wende. Der Meistersaal war laut Wende nur rund 600 Meter vom Führerbunker entfernt. In der Nachkriegszeit wurden hier Hits von Mireille Mathieu, Drafi Deutscher, Juliane Werding, Marianne Rosenberg, Christian Anders und vielen mehr produziert. Heutzutage kann er für Veranstaltungen und Aufnahmen gemietet werden.
Die Firma der Gebrüder Meisel hat das Haus 1974 erworben. Zu diesem Zeitpunkt zählte Hansa als Label und Musikverlag bereits zu den führenden Produktionsunternehmen in Deutschland. Das ist bis heute so geblieben. Herbert Grönemeyer arbeitet in einer Etage als Produzent. Filme und Fernsehserien werden hier vertont. Jack White von der US-Band „The White Stripes“ macht gelegentlich im dritten Stock Musik. Und die Rocker von „R.E.M.“ hatten hier einst ein Live-Album aufgenommen. Durch eine moderne Ausstattung, internationalen Erfolg und vor allem Mythen und Legenden wurden die Hansa Tonstudios zum „wohl kreativsten Musikhaus“ in Berlin.