Rezeptbetrug: PTA mit Chef auf Fälschertour Tobias Lau, 24.10.2019 15:36 Uhr
Ein Ehepaar, eine Liebesbeziehung, eine kriminelle Bande – und alles aus nur drei Personen. In Nordhausen stehen eine Apothekerin, ihr Ehemann und eine PTA vor Gericht. Sie sollen ein ausgeklügeltes System entwickelt haben, über das sie jahrelang mit gefälschten Rezepten Geld erschlichen haben, um ihren strauchelnden Betrieb vor der Schließung zu retten. Mindestens 80.000 Euro sind es, für die ihnen bis zu vier Jahren Gefängnis drohen. Das ist aber nur die Spitze des Eisberges. Der tatsächliche Betrag liegt höchstwahrscheinlich um ein Vielfaches höher und könnte noch gesondert verhandelt werden.
„Wir haben bei den Ermittlungen festgestellt, dass es sehr viele Lücken im Abrechnungssystem der Krankenkassen gibt, die die drei geschickt auszunutzen wussten“, erzählt Oberstaatsanwalt Gert Störmer am Rande des Prozesses. „Deshalb waren die Täter immer einen Schritt voraus.“ Störmer unterstanden drei Jahre lang die Ermittlungen in dem Fall, darunter anderthalb Jahre die Sonderkommission „Pille“, die ab Ende 2017 einer bundesweiten Kette von Rezeptbetrugsfällen nachging und versuchte, Muster und Zusammenhänge zu erkennen. 24 Leitz-Ordner füllte sie so mit Ermittlungsakten – und erreichte ihr Ziel, nicht zuletzt durch wochenlange Observierungen und abgehörte Telefone.
Im Mai war es dann so weit: 60 Beamte und vier Staatsanwälte durchsuchten mehrere Wohnungen und Geschäftsräume in Brandenburg, Berlin und Niedersachsen – seitdem sitzen zwei der drei Angeklagten in Untersuchungshaft. Am Donnerstagmorgen begann nun endlich ihr Prozess vor dem Amtsgericht Nordhausen.
Der 61-jährigen Apothekerin Heike K., ihrem 58-jährigen Ehemann Manfred K. und der 35-jährigen PTA Jennifer R. wird gemeinschaftlicher und gewerbsmäßiger Betrug in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung in 45 Fällen vorgeworfen. Um 80.321,46 Euro sollen sie Dutzende Krankenkassen betrogen haben, indem sie mit erschlichenen Patientendaten Rezepte fälschten, in verschiedenen Apotheken im gesamten Bundesgebiet einlösten und die Arzneimittel dann über die eigenen beiden Apotheken weiterverkauften.
Doch das sind nur die blanken Fakten. Die Geschichte dahinter ist weitaus abenteuerlicher: Der Ehemann der Apothekerin ist jeden Monat mit der PTA „auf Tour gegangen“, wie sie es selbst nennen. Dabei zogen sie alle Register konspirativer Arbeit: Mit Perücke und Brille verkleidet löste sie die gefälschten Rezepte für Präprate wie Humira, Xarelto, Lyrica, Pregabalin oder Betaferon ein. Die durfte sie laut Vorgabe ihres Chefs nur mit Handschuhen oder abgeklebten Fingern berühren. Die Nacht verbrachten sie gemeinsam in Hotels, die sie unter falschen Namen buchten.
Sie habe ständig wechselnde Telefone mit neuen SIM-Karten genutzt und Wert darauf gelegt, „dass ich entweder aus dem Wald heraus anrufe oder von einem belebten Platz, also entweder von sehr einsamen oder sehr belebten Orten“, erklärte die 32-Jährige zum Prozessauftakt der Richterin Eva Balk. Sie habe geglaubt, dass die Telefonate so schwerer zu orten seien.
Hotelzimmer brauchten sie, weil die monatlichen Touren meist über drei Tage gingen, in denen sieben bis zehn Apotheken aufsuchten. Aber auch in anderem Wortsinne verbrachten die beiden die Nächte gemeinsam, zumindest nach Darstellung der PTA. Seit 2012 hätten sie und Manfred K. nämlich eine sexuelle Beziehung gehabt, trotz dessen Ehe mit der Apothekerin. Ihren Beginn habe diese Beziehung mit einem „sexuellen Video“ von R. genommen, das der Mann ihrer Chefin im Internet gefunden habe. Er sprach sie darauf an. „Ich dachte erst, ich kriege eine Abmahnung“, erzählt sie vor Gericht. „Doch stattdessen lud er mich zu einem Sextreffen mit einer weiteren Bekannten ein.“ Aus diesen „Sextreffen“ – mehrere sollen noch gefolgt sein – habe sich dann eine Liebesbeziehung entwickelt.
Warum das relevant ist? Jene Beziehung soll der Ausgangspunkt für ihre Beteiligung an den Taten gewesen sein. Als einzige der drei hatte sie bereits in der Untersuchungshaft umfassend ausgepackt und dabei auf die emotionale Abhängigkeit von Manfred K. verwiesen, der sie quasi in die Geschichte mit reingezogen habe. So habe er nicht nur eine sexuelle Beziehung zu ihr geführt und ihr durch eine privat äußerst schwere Zeit geholfen, sondern sie auch finanziell unterstützt.
Als er dann mit dem unmoralischen Angebot an sie herangetreten sei, die operative Durchführung der Touren – Routen ausarbeiten, Hotels buchen, Arzneimittel telefonisch in den Apotheken vorbestellen und schließlich verkleidet abholen – zu übernehmen, habe sie nicht ablehnen können. „Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin“, erklärt sie.
Manfred K. streitet das ab. Es habe nie eine sexuelle oder emotionale Beziehung zwischen beiden gegeben, lediglich ein berufliches und ein geschäftliches Verhältnis – einerseits seine Rolle als Quasi-Chef in der Apotheke, andererseits die Betrugstouren, wie er erklärt. Immer wieder schaut er dabei herüber zu seiner Frau, die wie versteinert geradeaus starrt. Ob es nun eine Liebesbeziehung gab oder nicht, ist dann aber auch die einzige wesentliche Abweichung in den Versionen der Angeklagten. Denn auch die beiden Eheleute haben zu Prozessbeginn Geständnisse abgelegt und die Vorwürfe umfassend eingeräumt. Ihre Motivation war freilich eine ganz andere.
Auch in der Fassung von Heike K erscheint ihr Ehemann dabei als gutmütiger und hilfsbereiter Retter in der Not. Er sei es gewesen, der ihr aus der toxischen Beziehung mit ihrem übergriffigen Ex-Mann herausgeholfen und sich mit ihr eine neue Existenz aufgebaut habe. 2006 heirateten die beiden. Manfred K., vorher Stammkunde in ihrer Apotheke in Königs Wusterhausen, steigt daraufhin in den Betrieb ein. Er ist kein Pharmazeut, sondern übernimmt Buchhaltung, Marketing und allerlei andere Fragen der betrieblichen Organisation. 2007 investieren sie 100.000 Euro in die Eröffnung einer zweiten Apotheke ganz in der Nähe. Nach einem guten Start sei es mit der Filiale aber rapide bergab gegangen, nachdem „gegenüber eine Filiale einer Billig-Apothekenkette eröffnet hat“, so Heike K.
Die Konsequenz: Die Filiale zieht um, was die beiden noch einmal 100.000 Euro kostet – alles über Kredite und Darlehen finanziert. Doch in den folgenden Jahren entwickelt sich der Betrieb auch am neuen Standort nicht wie erhofft. Der Punkt rückt näher, an dem die Querfinanzierung über die Hauptapotheke die Filiale nicht mehr halten kann. Ihre Schließung steht im Raum. Doch Manfred K. redet das seiner Frau aus, zu groß wäre der Ansehensverlust gewesen, berichten beide übereinstimmend. Währenddessen steigt die Angst, Kredite und Darlehen nicht mehr zurückzahlen zu können. Aus dieser Situation heraus sei die Idee entstanden, die beiden Apotheken zur Not mit unkonventionellen Mitteln am Leben zu erhalten.
Das Mastermind hinter der Masche scheint Manfred K. gewesen zu sein, bei ihm laufen die Fäden zusammen. Dabei gingen die drei nicht nur arbeitsteilig vor, sondern hielten sich nach eigener Aussage auch an die Devise, dass niemand mehr wissen soll, als er unbedingt muss: Während Heike K. nie gewusst haben will, wie genau das mit den gefälschten Rezepten vonstatten ging, hatte Manfred K. nach eigener Darstellung keine Ahnung, wie das mit der Abrechnung der abgegebenen, aber nie eingekauften Arzneimittel eigentlich funktionierte.
Er war für die Verordnungen verantwortlich: Die Blankorezepte habe er sich kistenweise aus einer Druckerei besorgt. Die Patientendaten wiederum habe er sich „von Datenhändlern im Internet besorgt“ – darunter ab 2017 auch Daten einer Physiotherapie-Praxis im niedersächsischen Bad Lauterberg. Wie genau er an welche Informationen kam, ist noch offen, wie so manches Detail ihrer Vorgehensweise.
Die Unterschriften und Stempel der Ärzte jedenfalls machte er selbst. Dazu hatte er eine eigene kleine Fälscherwerkstatt eingerichtet – in einem Zimmer der Wohnung von Jennifer R. Die ist zudem in einer anderen Wohnung gemeldet als der, in der sie tatsächlich lebt – eine weitere konspirative Vorsichtsmaßnahme. Für die PTA springen durch die Teilnahme an den Touren meist 1000 bis 1500 Euro pro Monat ab.
Unterdessen hielt Heike K. in der Apotheke die Stellung. Sie gab auf Basis der Warenabverkaufsliste durch, welche Arzneimittel die beiden organisieren sollten – es wurde abgeglichen, welche gut gingen und welche nicht, damit die Masche nicht auffliegt. Für die „Sonderware“, wie die erschlichenen Medikamente intern genannt wurden, gab es im Generalalphabet sogar eine eigens abgetrennte Abteilung. An die restliche Belegschaft gab die Chefin die Parole aus, dass das „ihr Regal“ sei. Fast nebenbei erhebt Jennifer R. in diesem Zusammenhang allerdings schwere Vorwürfe gegen ihre ehemaligen Kollegen: „Das gesamte Personal wusste Bescheid“, sagt sie.
Kam ein Patient mit einer Verordnung über mehrere Medikamente, die eines aus der Kategorie „Sonderware“ enthielt, wurde die Chefin dann tätig. Sie habe das Rezept bedient, aber kurz nach der Bedruckung den Vorgang abgebrochen und gelöscht, erklärt ihr Anwalt am Rande der Verhandlung. Dadurch sei die Abgabe des erschlichenen Präparates in der Apothekensoftware nicht verbucht worden, das Rezept aber regelkonform bedruckt gewesen, sodass sie es ohne Aufsehen zu erregen ans Rechenzentrum schicken konnte. Erst Anfang 2019 habe sie gehört, dass bei Aposoft nun auch abgebrochene Vorgänge dauerhaft gespeichert würden. Daraufhin habe sie im Backoffice eigens einen weiteren Computer installiert, über den sie dann am regulären System vorbei die „Sonderware“ verbuchen konnte.
Da war es aber ohnehin nicht mehr lange bis zum finalen Akt. Nur Wochen später klickten die Handschellen, alle drei kamen in Untersuchungshaft, nur Jennifer R. kam nach ihrem umfassenden Geständnis wieder auf freien Fuß. Dabei werden nun in Nordhausen aus Zeitgründen – innerhalb eines halben Jahres musste Anklage erhoben werden – nur 45 Fälle verhandelt. Nordhausen ist wegen des Tatortprinzips der Verhandlungsort. Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen war nämlich die erste, die in dem Fall ermittelt hat. Ob die betrogenen Apotheken sich mit Retaxationen der Kassen rumschlagen müssen, kann bei Gericht niemand sagen. Zumindest von rechtlicher Seite bräuchten sie allerdings keine Konsequenzen zu fürchten. „Dazu waren die Fälschungen viel zu gut“, sagt Staatsanwalt Störmer.
Der Fall könnte ihn noch eine Weile beschäftigen. Da die Beschuldigten aus Königs Wusterhausen kommen, liegen die „restlichen“ Fälle bei der Staatsanwaltschaft Cottbus – „restlich“ heißt rund 180 Fälle mit einem Gesamtschaden von mehreren Hunderttausend Euro. Bevor in Nordhausen kein Urteil gefällt wurde, werde sich da aber noch nicht viel tun, erklärt Störmer. Er versichert aber: „Die Ermittlungen gehen weiter.“