Eine Parkinson-Diagnose warf das Ehepaar Seidl aus dem oberbayerischen Altötting aus seinem Alltag. Als es ihrem Mann Tony immer schlechter ging, musste Christiane die Familie mit ihrem PTA-Job über die Runden bringen.
Den 23. November 2005 wird Christiane Seidl nie vergessen. „Mein Mann kam von Untersuchungen aus dem Großklinikum Großhadern wieder“, erinnert sie sich. „Ich saß mit unserer Tochter Cordula, damals zweieinhalb Jahre alt, auf der Ofenbank und fragte Tony: ‚Und was ist jetzt?‘ Und er antwortet: ‚Parkinson.‘“ Ihre Reaktion darauf sei nicht druckfähig.
Angefangen habe es mit Gleichgewichtsschwankungen, Taubheitsgefühlen und Lähmungserscheinungen. Dann habe die Sprache ihres Mannes immer verwaschener geklungen. Doch die Seidls bemühten sich, die Diagnose zu verdrängen, so gut es nur ging. „Mein Mann ist stark, der hat das nicht, bemühte ich mir einzureden.“ Die Symptome seien indes immer schlimmer geworden. „Im Jahr 2010 war mein Mann dem Stress auf der Arbeit nicht mehr gewachsen, sein Arbeitgeber hat ihn so schnell wie möglich hinauskomplimentiert.“
Unversehens wurde Christiane Seidl zur Alleinverdienerin. „Morgens und abends war ich quasi Pflegekraft für meinen Mann, tagsüber blieb er mit der Unterstützung unserer Tochter weitgehend auf sich allein gestellt“, erzählt sie. „‘Wenn etwas ist, da steht das Telefon‘, sagte ich ihm.“ Ihren Haushalt habe sie gar nicht mehr in den Griff bekommen. „In manchen Zimmern musste man bergauf gehen“, räumte sie ein. Eine perfekte Hausfrau sei sie auch heute nicht. „Wenn das jemanden stört, drücke ich ihm den Putzlappen in die Hand.“
Die heimische Belastung habe sich unweigerlich auf die Teilzeitarbeit in der Apotheke ausgewirkt. „Die Krankengeschichten von dort nahm ich mit nach Hause“, erzählt Seidl. „Wenn ich mit jungen Krebspatienten oder Kindern mit Mukoviszidose konfrontiert wurde, schlauchte mich das zusätzlich. Besonders berührte mich das Leid eines anderen Parkinsonpatienten, der so verfiel, dass er einmal von seinem Sohn aus der Offizin abgeholt werden musste.“ Ihr Verhältnis zu den Kunden habe in dieser Zeit deutlich gelitten: „Ich konnte nicht mehr so freundlich sein, wie sich das eigentlich gehörte. Es kann sein, dass ich ab und zu etwas zu harsch reagiert habe.“ Ihr Chef habe sie dann manchmal bewusst abgeschirmt. „Dann war ich halt in der Analytik und im Labor.“
Im Jahr 2013 wechselte Seidl in eine Vollzeitstelle bei der Krankenhausapotheke in Altötting. Die Arbeit gefalle ihr sehr. „Jetzt habe ich mit kranken Menschen direkt nichts mehr zu tun, das ist mir lieber so“, berichtet Seidl. „Ich unterhalte mich mit mit meinen Kollegen und diskutiere höchstens mal mit dem Reagenzglas. Unsere Apotheke ist an die Kinder-Intensivstation angeschlossen, wir stellen Ernährungsbeutel für Frühchen und ab und zu auch Zytostatika her.“
Derweil begannen die Dopamin-Medikamente ihres Mannes immer mehr an Wirksamkeit zu verlieren. „Alle neun Monate musste der Dosierungsplan neu angepasst werden. Zum Schluss musste Tony alle drei Stunden Medikamente nehmen und konnte sich nur eine Stunde lang gut bewegen.“ Die Nebenwirkungen seien immens gewesen: „Leber und Nieren wurden in Mitleidenschaft gezogen. Mein Mann ist ohnehin nicht der Schlankeste, aber jetzt sammelte sich auch noch Wasser in den Beinen.“ Dazu litt er unter Freezing, plötzlichen Blockaden der Beine. Frau Seidl erinnert sich noch gut an einen Besuch bei einem Volksfest in der Nähe. „Wir hatten die Gehstöcke im Auto gelassen und auf einmal konnte sich mein Mann nicht mehr bewegen. Mit Müh und Not haben wir ihn auf die nächste Parkbank bugsiert.“
Als alles nichts mehr zu helfen schien, entschloss sich Tony Seidl 2014 zu einem radikalen Schritt. Er ließ sich einen Schrittmacher ins Hirn einsetzen. Bei der Tiefen Hirnstimulation (THS) werden in bestimmten Hirnregionen elektronische Impulse freigesetzt. „Die Methode ist nicht für jeden geeignet“, sagt Christiane Seidl. Bei ihrem Mann habe sie schnell angeschlagen. Bewegungsfähigkeit und Sprache verbesserten sich schlagartig. „Dank der THS kann er sich selbstständig ohne Hilfe bewegen.“ Er mache jetzt den größten Teil des Haushalts, sei fürs Kochen und alle schulischen Angelegenheiten der Tochter zuständig. „Alles, wofür man sich bücken muss, also vor allem das Putzen und Aufräumen, übernehme ich.“
Seidl ging es mittlerweile wieder so gut, dass er sich 2016 einer großen Herausforderung stellte. In einem Liegerad und von einer Bekannten begleitet unternahm er eine 500 Kilometer lange Pilgerfahrt ins italienische Padua. „Sie kamen stolz, aber völlig erschöpft an“, erinnert sich seine Frau. Ein Jahr später schwang sie sich selbst auf den Sattel. „Das war wirklich toll, ich bin noch nie so viel Rad gefahren.“ Auch Reisen an den Neusiedler See oder Städtetouren trauen sich die beiden wieder zu.
Man habe sich erst nicht vorstellen können, wie man mit der Diagnose Parkinson überhaupt weiterleben könne. „Wir haben uns aber geschworen, in guten und schlechten Zeiten zueinander zu stehen. Manche Paare in unserer Situation haben sich getrennt, aber das war für uns nie ein Thema“, bekundet Christiane Seidl. Ab und an gönne sie sich kleine Auszeiten, ein abendliches Getränk mit einer Kollegin oder ein Wellness-Wochenende. „Wären wir bei den Parkinson-Medikamenten geblieben, wäre mein Mann jetzt ein Pflegefall. Im Gegensatz zu anderen hatten wir verdammtes Glück. Das Leben mit Parkinson ist zwar schwierig, aber durchaus lebens- und liebenswert.“
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