Mit seelischen Problemen am HV-Tisch Maria Hendrischke, 03.06.2016 14:09 Uhr
Psychische Krankheiten sind noch immer ein Tabuthema. Bei der PTA Lisa Schulze* wurde Schizophrenie diagnostiziert. Vor Chefs und Kollegen hält sie ihre Krankheit geheim: Sie befürchtet, entlassen zu werden.
Schulze hat 2004 ihre PTA-Ausbildung abgeschlossen. Zu dem Beruf kam sie eher zufällig, denn nach dem Realschulabschluss wollte sie ursprünglich Pferdewirtin werden. Als Reiterin war sie damals noch nicht qualifiziert genug. Schulze konnte sich auch die Arbeit in der Apotheke gut vorstellen. Im Laufe ihrer Ausbildung merkte sie, wie sehr ihr der Beruf wirklich zusagte. „Ich schätze die Vielseitigkeit“, sagt Schulze.
Privat gab es Schwierigkeiten. Schulze hatte nach einem Umzug als Kind in der Schule Probleme, Anschluss zu finden. „Von der vierten Klasse bis zu meinem Abschluss wurde ich gemobbt“, sagt sie. Auch in der PTA-Schule blieb sie eine Außenseiterin. Zu Hause war es nicht immer harmonisch: „Wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, schrie er meine Mutter und mich an. Das machte mir Angst.“
Nach ihrer PTA-Ausbildung geriet sie in eine Beziehung, in der sie von ihrem Partner psychisch misshandelt wurde. Ihr Ex-Freund hatte Drogenprobleme; Schulze stellte ihm ein Ultimatum. Als er trotzdem etwas einnahm, packte sie ihre Sachen und zog wieder bei ihren Eltern ein. Doch damit war es nicht ausgestanden: „Er drohte, mich und Angehörige von mir umzubringen.“
Schulze hatte Panik. Sie ging zu ihrem Hausarzt, der ihr riet, eine Tagesklinik aufzusuchen. 2007 verbrachte sie das erste Mal zwei Wochen in einer Klinik. Ein Arzt sagte ihr, sie müsse Seroquel einnehmen. „Als PTA kannte ich das Medikament und die Indikation“, sagt Schulze. Schließlich bekam sie ihre Diagnose: paranoide Schizophrenie, die häufigste Form der schizophrenen Erkrankungen. Daran litt auch Mathematiker John Nash, dessen Geschichte im Oscar-prämierten Film „A Beautiful Mind“ dargestellt wird.
Bis zu 1 Prozent der Deutschen erkranken in ihrem Leben an Schizophrenie. Die Krankheit hat unterschiedliche Ausprägungen, wird aber nach Schulzes Erfahrung oft mit einer gespaltenen Persönlichkeit gleichgesetzt. Das sei aber eine Extremform. Stattdessen ist Schizophrenie durch Wahrnehmungsstörungen gekennzeichnet: Manche Erkrankte haben Ich-Störungen, sie erleben etwa ihr Handeln aus der Vogelperspektive. Andere haben optische oder akustische Halluzinationen; sie sehen und hören etwas, das nicht real existiert. Ein Teil der Schizophrenen hört Stimmen oder fühlt sich verfolgt.
Die Wahrnehmungsstörungen treten meist nur schubweise auf. Zwischen den Schüben können Monate oder Jahre liegen. Schulze sieht beispielsweise ein- bis zweimal im Jahr Schatten, von denen sie eigentlich weiß, dass sie nicht existieren können. Sie hat außerdem mit depressiven Phasen und Albträumen zu kämpfen. Ärzte konnten den Ursprung der Sinnestäuschungen noch nicht klären: „Würde man Psychiater mit Chirurgen vergleichen, dann wissen sie derzeit ungefähr, dass sie sich vor einer Operation die Hände desinfizieren sollten“, so Schulze.
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass seelisch Erkrankten noch immer mit Vorbehalten begegnet wird. „Wer sich das Bein bricht, bekommt Mitleid. Das ist bei psychischen Krankheiten ganz anders.“ Besonders trifft sie, dass sich selbst Freunde von ihr distanziert hätten.
Nach der Diagnose im Jahr 2007 wurde sie von ihrer Chefin aus „fadenscheinigen Gründen“ gekündigt: „Angeblich habe ich nie Apothekenaktionen vorgeschlagen“, so Schulze. Sie vermutet, dass ihr damaliger Hausarzt seine Schweigepflicht gebrochen und die Inhaberin über die Erkrankung informiert hat. Danach zog Schulze mehrfach um: „Ich wollte immer wieder komplett neuzustarten“, erklärt sie. Aber dadurch verzeichnete ihr Lebenslauf immer mehr Stationen – er wurde „zu lang“.
Sie kann nachvollziehen, dass Inhaber lieber Mitarbeiter mit einem geradlinigen Lebens- und Berufsweg einstellen wollen. Ärzte hätten ihr deshalb geraten, die Erkrankung zu verschweigen. Das falle ihr schwer, sie wäre lieber offen. „Es ist ein Versteckspiel“, sagt Schulze. Sie wünscht sich, ihre Krankheit offen ansprechen zu können, ohne anders behandelt zu werden. Einige würden jedoch extra schonend mit ihr umgehen, andere suchten in jedem ihrer Worte nach Auffälligkeiten.
Wie Chefs oder Kollegen stattdessen reagieren sollten? „Es wäre schön, wenn sie sagen: 'Wir versuchen es einfach'“, sagt Schulze. Psychisch Kranke könnten selbst einschätzen, wann sie mit einem Verhalten eine Grenze überschreiten. Daraufhin gekündigt zu werden, könnte sie verstehen. Aber: „Ich möchte eine Chance“, betont Schulze.
Sie weiß, dass es funktionieren kann: 2013 und 2014 arbeitete sie in einer geschäftigen Center-Apotheke. Sie organisierte mehrere Projekte. Das Arbeitsumfeld gefiel ihr sehr, sie fühlte sich wohl. „Wir waren ein großes Team und trotzdem ging es familiär zu“, berichtet sie. Während der zwei Jahre dort traten keine Symptome auf. Sie traute sie sich schließlich, ihrem Chef von der Diagnose zu erzählen. „Er war tolerant und sah das ganz locker, weil ich nie gefehlt hatte und er mit meiner Arbeit zufrieden war“, so Schulze. Sie musste den Job aufgeben, als sie ihren jetzigen Freund kennenlernte und für ihn umzog.
Inzwischen arbeitet sie für eine Zeitarbeitsfirma, „damit nicht noch mehr Arbeitgeber in meinem Lebenslauf stehen“. In der Apotheke, in der sie nun halbtags angestellt ist, gefällt es ihr gut. Dennoch habe sie dem Inhaber bislang nichts von ihrer Krankheit erzählt; vielleicht würde auch er sie daraufhin kündigen.
Seit Januar nimmt sie nach Rücksprache mit ihrem Arzt keine Psychopharmaka oder Neuroleptika mehr. Nur ein Notfallarzneimittel hat sie immer parat. Schulze macht gerade eine Psychotherapie. Ihre Therapeutin erklärte, dass ihre Symptome auch auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hinweisen könnten. Sie ergänzte jedoch, dass auch die Diagnose Schizophrenie zutreffen könnte. Dadurch fiel Schulze erneut in ein Loch – und ließ sich nach dieser Therapiestunde für eine Woche krankschreiben.
Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung fehle sie höchstens zwei Wochen im Jahr, sagt sie. „Nur wenn ich akut in eine Tagesklinik muss, können es auch drei bis vier Wochen werden“, so Schulze. Solange sie sich wohlfühle, habe sie keine Beschwerden und sei voll einsatzfähig. Wenn sie offensichtlich psychisch Kranke berate, gehe ihr das zwar nahe. „Aber ich sehe es als Beratungssituation und kann damit umgehen.“
2014 waren 13 Prozent der Krankschreibungen unter PTA auf psychische Krankheiten zurückzuführen. Das geht aus Zahlen der AOK hervor. Schulze kennt andere PTA mit seelischen Problemen. Eine Kollegin hatte ein traumatisches Erlebnis in einer Apotheke und könne daher nicht mehr dort arbeiten. „Sie will oder kann nicht darüber sprechen, was genau vorgefallen ist“, sagt Schulze. Viele Betroffene hätten Angst davor, über ihre Krankheit zu reden. Andere ließen sich nie diagnostizieren, weshalb die Dunkelziffer hoch sein könnte. Schulze schätzt daher, dass eine psychische Erkrankung in nahezu jedem Apothekenteam einmal auftreten dürfte.
*Name geändert