Seit zwölf Jahren wohnt Karmen Nazaryan in Magdeburg, seit drei Jahren arbeitet sie als PTA in der Rats-Apotheke. Am Morgen des 26. Mai stand unerwartet die Polizei vor ihrer Haustür: Die gebürtige Armenierin und ihre Familie sollen abgeschoben werden. Nazaryan und ihr Chef Andreas Haese kämpfen gegen die Entscheidung.
Nazaryan hat ihre PTA-Ausbildung an der Magdeburger Schule Dr. Otto Schlein im Februar 2013 abgeschlossen. „PTA ist mein Traumberuf“, sagt die 28-Jährige. Am liebsten arbeitet sie im Labor. Sie tritt mit ihrem Job in die Fußstapfen ihres Vaters, der in Armenien eine Apotheke führte. Da seine Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wurde, arbeitet er nun für ein Sicherheitsunternehmen.
Nazaryan ist festes Teammitglied der Rats-Apotheke: Sie absolvierte dort bereits ihr Praktikum. Direkt nach der Abschlussprüfung erhielt sie von Haese einen Arbeitsvertrag: „Sie hat uns überzeugt – ist wissbegierig, fleißig, passt super ins Team und die Kunden mochten sie auf Anhieb“, sagt der Apotheker.
Haese stellte Nazaryan ein, obwohl sie keine sichere Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland hatte, sondern nur Duldungsstatus hatte. „Als sie den Arbeitsvertrag vorlegte, erhielt sie eine Arbeitserlaubnis. Ihre Duldung wurde alle drei, später auch alle sechs Monate verlängert“, berichtet er. Niemals habe er damit gerechnet, dass Nazaryan nach zwölf Jahren im Land, einer deutschen Ausbildung und mehreren Berufsjahren als PTA abgeschoben werden könnte.
Der Grund für die Abschiebung: Bei der Einreise nach Deutschland hatten Nazaryans Eltern angegeben, aus dem Iran zu stammen. „Die Schleuser hatten ihnen dazu geraten, um ihre Chancen auf Asyl zu erhöhen“, berichtet sie. Denn Armenien gilt als sicheres Herkunftsland. Da ihre Eltern tatsächlich im Iran geboren wurden und nach Armenien ausgewandert waren, fiel den Behörden lange nichts auf. Erst im Jahr 2015 gab die Deutsche Botschaft in Armenien der Ausländerbehörde in Magdeburg einen Hinweis.
Nazaryan und ihr Bruder, beide bei der Einreise nach Deutschland noch minderjährig, erfuhren erst Jahre später von der Falschangabe der Eltern und dem Grund für die Flucht: Die Familie wurde bedroht. Damals lebte sie in der Stadt Echmiadzin, 20 Kilometer von Armeniens Hauptstadt Jerewan entfernt. Nazaryan will aus Angst keine Details zu den Bedrohungen nennen.
Am 26. Mai, gegen 5 Uhr morgens, klingelte die Polizei bei Nazaryan. „Wir hatten kurz vorher erfahren, dass meine Eltern abgeschoben werden sollten. Erst an dem Tag teilten sie mir mit, dass auch meine Duldung nicht verlängert wird“, berichtet Nazaryan. Der Fall ihres Bruders, der als Koch arbeitet, war noch nicht entschieden. „Er ist verheiratet und hat kleine Kinder“, so Nazaryan. Vermutlich werde aber auch er mit seiner Familie abgeschoben; seine Frau ist ebenfalls Armenierin.
Zehn Minuten hatte die Familie Zeit, um ihre Koffer zu packen, dann wurden sie von der Polizei nach Berlin zum Flughafen gebracht. Nazaryan rief in der Apotheke und bei ihrem Chef an: „Sie sagte, es tue ihr leid, aber sie könne nicht zur Arbeit kommen, weil sie abgeschoben werde“, so Haese. Das ganze Team sei an dem Tag wie betäubt gewesen. „Wir versuchten, über Whatsapp Kontakt zu ihr zu halten. Ich bin außerdem direkt zur Ausländerbehörde gegangen“, berichtet er. Viel erreichen konnte er dort jedoch nicht, da die Abschiebung schon beschlossen war. „Es war zu spät.“
Im letzten Moment wurde die Ausreise der Familie gestoppt, da der Vater zusammenbrach und von einem Arzt als nicht transportfähig eingestuft wurde. Für die abgebrochene Abschiebung hat die Ausländerbehörde jedem der drei einen Betrag von 1700 Euro in Rechnung gestellt, der bis zum 24. Juli beglichen werden soll. „Wir werden wohl in Raten zahlen“, sagt Nazaryan. Die Zahlung beeinflusst den Abschiebebeschluss der Behörde jedoch nicht.
Die Duldung der Familie wurde bis zum 11. Juli verlängert. „Aber das gibt keine Sicherheit, auch in der Zwischenzeit könnten wir abgeschoben werden“, so Nazaryan.
Sie wünscht sich vor allem eines: „Dass ich hier bleiben kann und nicht alles aufgeben muss, was ich mir aufgebaut habe.“ In Deutschland war es anfangs schwer: „Ich musste die Sprache lernen und sah 'anders' aus.“ Nun hat sie in der Rats-Apotheke eine Arbeitsstelle, mit der sie sehr zufrieden ist. „Armenien ist fremd für mich“, sagt sie. Die Familie ist seit der Flucht nicht mehr in dem Land gewesen und hat dort keine Verwandtschaft. Die Apotheke des Vaters existiert nicht mehr. Dass Nazaryans deutscher Schulabschluss und ihre Ausbildung anerkannt würden, ist nicht sicher. „Ich müsste noch einmal bei Null anfangen“, sagt sie. „Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.“
Juristisch ist die Sachlage klar; wegen Täuschung der Behörden muss die Familie ausreisen. Das schließt auch die Kinder mit ein. „Wir hatten immer überlegt, ob wir es aufdecken, aber unsere Anwälte haben uns abgeraten“, so Nazaryan. Viel geändert hätte die Offenlegung an ihrer jetzigen Situation wohl ohnehin nicht.
Eine letzte Hoffnung gibt es für Nazaryan: die Härtefallkommission. Am 7. Juli wird sie entschieden, ob sie sich mit dem Fall der PTA befassen wird. Von den acht Kommissionsmitgliedern müssten sich dann sechs dafür aussprechen, dass Nazaryan bleiben darf. Ob die Entscheidung auch ihre Familie miteinschließen würde, ist ungewiss. Dem Härtefallersuchen der Kommission müsste zudem noch Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) entsprechen.
Haese und das Apothekenteam setzen sich dafür ein, dass ihre PTA dauerhaft in Deutschland bleiben kann. Der Apotheker wandte sich an die Presse. Als die Lokalzeitung einen Bericht veröffentlichte, habe das Telefon zunächst nicht mehr stillgestanden, berichtet er. Viele Kunden und die Ärzte im Haus wollten helfen. „Sie haben ihre Abgeordneten angesprochen oder einen Brief an das Innenministerium geschrieben“, sagt Haese. Ob diese Briefe überhaupt gelesen werden, kann Nazaryan nicht einschätzen. „Bisher hat zumindest noch niemand eine Antwort bekommen.“
Inzwischen liegen in der Apotheke, im Magdeburger Dom und in der Nicolaikirche zudem Unterschriftenlisten aus, die ein Bleiberecht für Nazaryan fordern. Auch bei der Arbeitsstelle von Nazaryans Mutter, in der Kirche Hoffnungsgemeinde Magdeburg, können sich Unterstützer eintragen. Im Internet hat Haese eine Petition bei change.org gestartet; mehr als 300 haben bereits für die PTA unterzeichnet.
Nach dem Abschiebeversuch musste sich Nazaryan zunächst zwei Wochen lang krankschreiben lassen; sie konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. Inzwischen ist sie wieder in der Apotheke – auch, um sich abzulenken. „Außerdem möchte ich ja meinen Job nicht verlieren.“ Jeder zweite Kunde spreche sie auf den Fall an und frage, wie es weitergeht. Doch das weiß Nazaryan selbst nicht. „Karmen und ihre Familie sind ein Vorzeigebeispiel für vollständige Integration. Wir hoffen sehr, dass sie bleiben dürfen“, sagt Haese.
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