Kittel und Flecktarn: Alltag in der Bundeswehrapotheke Tobias Lau, 27.09.2020 08:00 Uhr
Wenig Bürokratie, aber lange Wege: Die Arbeit in einer Krankenhausapotheke unterscheidet sich von der Vor-Ort-Offizin – erst recht, wenn es die Apotheke eines der größten deutschen Bundeswehrkrankenhäuser ist. Alexa Schnölzer ist Apothekerin und Reserveoffizierin, sie kennt beide Arbeitswelten und hat Gefallen am Dienst in der Truppe gefunden. Wir haben ihr einen Besuch abgestattet.
Die macht rein optisch erst einmal nicht viel her, sie ist schließlich kein kaufmännischer Betrieb, sondern dient primär der Versorgung der Krankenhauspatienten – die meisten von ihnen Bundeswehrangehörige. Das kann man auf den ersten Blick nicht nur an den Uniformen erkennen, sondern auch an der Weltkarte an der Wand: Sie ist quasi ihr Lieferbezirk. Mit dutzenden weißen Fähnchen sind darauf die Standorte markiert, die von hier aus mit Arzneimitteln versorgt werden, darunter Militärstandorte im Auslandseinsatz, vor allem aber diplomatische Vertretungen wie Botschaften oder Konsulate auf dem gesamten Globus. Ein Blick auf die Sanacorp-Wanne, die daneben an der Wand steht, holt den Betrachter aber schnell wieder zurück auf den deutschen Apothekenmarkt.
Dabei ist die Anlieferung vom Großhändler eher die Ausnahme als die Regel. „Der absolute Großteil der Arzneimittel, die wir hier haben, kommt aus der Industrie. Den Großhandel nutzen wir auch für einige Sachen, die wir nicht am Lager haben. Aber die Grundversorgung kommt immer direkt vom Hersteller“, sagt Flottenapotheker Drudea Garbe. Man spricht sie tatsächlich als Frau Flottenapotheker an, die Truppe gendert nicht. Mit ihrem Dienstgrad – er entspricht dem Kapitän zur See bei der Marine beziehungsweise dem Oberst bei Heer und Luftwaffe – gehört Garbe zu den ranghöchsten Pharmazeuten der Bundeswehr, einen Generalapotheker gibt es seit geraumer Zeit nicht mehr.
Wie fast jedem Uniformträger in der Bundeswehrapotheke geht ihr das klischeehaft Militärisch-Zackige ab. Garbe spricht leise und mit sanfter Stimme, klingt fast ein wenig schüchtern. Sie ist allerdings auch keine reine Bundeswehr-Apothekerin, sondern hat ihre Karriere im zivilen Leben begonnen: Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur PTA. „Da habe ich mir dann gedacht, dass das zwar ein schöner Beruf ist, aber die Bezahlung und die langfristige Perspektive haben mir nicht gereicht“, erklärt sie. Deshalb studierte sie Pharmazie und begann ihr neues Berufsleben mit Chefvertretungen. „Aber auch das war mir nicht genug. Also habe ich hin und her überlegt, bis mir eine Freundin ein Apothekenmagazin in die Hand drückte und sagte, dass die Bundeswehr Pharmazeuten sucht.“
Garbe verpflichtete sich 1999 – vorerst für vier Jahre – und ging in den Auslandseinsatz. „Seitdem habe ich immer gesagt, es wäre mein Traumberuf, eine Krankenhausapotheke bei der Bundeswehr zu leiten.“ Also wurde aus den vier Jahren irgendwann der Status Berufssoldat. 2012 war es dann so weit. „Ich war gerade im Einsatz in Afghanistan, da rief mich der Personalreferent im Bundesamt für Personalmanagement an und sagte, es gäbe kurzfristig die Möglichkeit, die Leitung der Krankenhaus-Apotheke in Berlin zu übernehmen. Ich müsse mir das aber bereits bis zum nächsten Tag überlegen“, erinnert sie sich. „Ich habe ihm dann gesagt, dass ich da gar nicht überlegen muss.“
Dabei hat sie als zivil ausgebildete Pharmazeutin gar nicht das ganze akademische Spektrum absolviert, das ein bei der Bundeswehr ausgebildeter Apotheker vorweisen muss: Wer bei der Truppe die Laufbahn als Apotheker gehen will, muss nämlich nicht nur Pharmazie, sondern auch Lebensmittelchemie studieren. Auf die Approbation folgt das Diplom. Diese „doppelt Approbierten“, wie Garbe sie nennt, werden in Auslandseinsätzen dringend gebraucht: Sie sind nicht nur für die Arzneimittelversorgung, sondern auch die Lebensmittelsicherheit verantwortlich. Es sind Apotheker, die vor Ort überprüfen, ob beispielsweise Lebensmittellieferungen von lokalen Anbietern ungefährlich sind und den geforderten Normen entsprechen. Entsprechend gehören Sie zu den Sanitätssoldaten mit den meisten Auslandseinsätzen. „Am häufigsten gehen Chirurgen oder Anästhesisten, aber Pharmazeuten müssen ebenfalls überdurchschnittlich oft in Einsatzgebiete.“ Sie selbst ist da keine Ausnahme: Sie wisse aus dem Stegreif nicht einmal, wie oft sie schon im Auslandseinsatz war, sagt Garbe. Acht oder neun Mal dürften es gewesen sein.
Aber auch PTA und PKA müssen bei der Bundeswehr Zusatzqualifikationen erwerben, die im zivilen Leben eher von untergeordneter Rolle sind: Neben der Waffenbedienung und speziellen Fahrzeugführerscheinen müssen sie geschult und zertifiziert zur Abfertigung und Versendung von Gefahrenstoffen sein. Dafür funktioniert in der Bundeswehrapotheke aber auch manches einfacher als in der öffentlichen Apotheke. „Es gibt hier keine Rabattverträge, das erleichtert die Abgabe sehr“, sagt Oberstabsapotheker Alexa Schnölzer. Die 38-Jährige ist Reserveoffizierin und kennt daher auch aus heutiger Sicht beide Seiten. Soldaten sind über die sogenannte Freie Heilfürsorge abgesichert, die weder zur GKV noch zur PKV gehört. Entsprechend sehen auch die Rezepte aus. „Das sind zwar die normalen Muster 16, aber es müssen viel weniger Angaben gemacht werden. In der Regel reichen Name, Dienstgrad, Personalnummer, Adresse und Einheit.“
Auch Änderungen vorzunehmen, sei bedeutend einfacher als im zivilen Leben. „Die Kommunikation mit den Ärzten funktioniert hier einfach viel besser“, sagt Schnölzer. „Zuhause ist es fast normal, dass es Formfehler gibt. Rückfragen zu stellen, ist aber oft schwer und umständlich.“ Bei der Bundeswehr gebe es da viel weniger Probleme. „Man hat hier nicht das Gefühl, dass es eine Konkurrenz zwischen Arzt und Apotheker gibt“, sagt sie. Dafür ist das, was auf das Rezept folgt, in der Bundeswehrapotheke komplizierter: der Gang ins Lager. Einen Kommissionierer hat die Apotheke nicht, und das hat einen Grund: Das gesamte Arzneimittellager zu begutachten, füllt beinahe einen ganzen Nachmittag.
Denn es ist auf mehrere Gebäude und Stockwerke verteilt. „Es ist manchmal schwer, bei solchen Größenordnungen die Übersicht zu behalten“, sagt Schnölzer. Die benötigten Arzneimittel findet sie dann anhand von Koordinaten. „903 004 03 01“, steht dann da beispielsweise: je drei Zahlen für Raum und Regal sowie je zwei für Zeile und Fach. Damit macht sie sich dann auf den Weg, heraus aus der Apotheke, vorbei an der gegenüberliegenden Tür, auf der noch ein Relikt aus der Vergangenheit prangt: Unter einem roten Apotheken-A steht „Produktion – Zutritt verboten“. Dahinter wurden bis vor einigen Jahren Arzneimittel hergestellt. Nachdem der Bundesrechnungshof das 2012 als unwirtschaftlich kritisierte, wurde die Produktion in der Truppe eingestellt. Ob das so bleibt, ist nicht ganz sicher: Angesichts der steigenden Lieferengpässe bei Produzenten aus Fernost werden mittlerweile wieder Stimmen laut, die eine Wiederaufnahme der Produktion fordern.
Bis dahin müssen Garbe, Schnölzer und ihre Kameraden aber weiter ausnahmslos bestellte Ware aus dem weitläufigen Lager holen. „Durch die langen Wege dauert die Abgabe hier natürlich auch länger“, sagt Schnölzer. „Man ist schon mal zehn Minuten unterwegs, bis man mit dem Arzneimittel zurück ist. Am Anfang hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, wenn die Soldaten so lange auf ihr Arzneimittel warten mussten.“ Doch die sollten es gewohnt sein: Eine alte Kommissweisheit besagt, dass das Soldatenleben zu 90 Prozent aus Warten besteht – und zu 10 Prozent aus höchster Eile. Etwas länger als in der zivilen Apotheke dauere es auch, die Arzneimittel erst einmal zu finden. „Richtige Apothekensoftware gibt es hier nicht, wir arbeiten mit SAP. Da könnte man noch etwas optimieren, Warenwirtschaftssysteme gibt es ja nicht umsonst.“ Dafür habe SAP einen anderen Vorteil, den gängige Apothekensoftware nicht hat: Das System ist von allen Standorten erreichbar.
Und Schnölzer sieht noch mehr Vorteile in ihrer Arbeit bei der Bundeswehr – nicht zuletzt aufgrund der Covid-19-Pandemie. „Ich bin froh, dass ich in der letzten Zeit hier war und nicht in der öffentlichen Apotheke. Dort fängt man sehr viel mehr ab, man wird ständig angegangen. Hier gibt es keine Kundendiskussionen.“ Auch was im ersten Moment vielleicht weniger positiv klingt, begeistert Schnölzer: die vielen Regeln. „Es gibt hier für alles eine Vorschrift. Das würde man sich in der öffentlichen Apotheke manchmal wünschen.“ So herrsche Erwartungssicherheit in Bezug auf das eigene Handeln. „QMS, Abläufe, Arbeitsanweisungen, Prozessbeschreibungen – das kann man hier alles einfach ausdrucken und muss es neuen Mitarbeitern dann nur vorlegen, statt sie lange einzuweisen. Das finde ich genial.“
Auch sei die Bundeswehapotheke weitaus arbeitsteiliger – dass man als Approbierte für gefühlt alles gleichzeitig zuständig ist, gebe es dort nicht. Allein zwei Mitarbeiter sind für die täglichen Inventur zuständig, eine Mitarbeiterin nur für das QMS. „Von dem QMS hier bin ich total begeistert“, sagt Schnölzer. Mit Retax und anderen Ärgerlichkeiten muss sich eine Krankenhausapotheke ebenfalls nicht herumschlagen – sie ist kein Handelsbetrieb. Dass der wirtschaftliche Druck deshalb fehlt, sieht sie als einen der größten Vorteile. „Man spürt hier keinen Konkurrenzdruck. Jeder hat seinen eigenen Arbeitsbereich und geht seiner Arbeit nach.“ Entsprechend muss sich die Apotheke auch nicht an den Arbeitszeiten der Bevölkerung orientieren: Zwar geht es teils bedeutend früher los – die ersten sind schon morgens um sechs in der Offizin – dafür sind Öffnungszeiten bis 18 oder gar 20 Uhr nur eine Erzählung aus der zivilen Welt. „Es war am Anfang sehr ungewohnt für mich, dass hier ab 15 Uhr nicht mehr viel passiert.“ Weniger passiert auch in der Rezeptur, zumindest, was die Vielfalt angeht: Hauptsächlich dermatologische Präparate, ölige Dronabinoltropfen für die Station sowie ein paar Lösungen und Kapseln werden dort hergestellt. „Das ist in der öffentlichen Apotheke abwechslungsreicher, weil es patientenindividuell hergestellt wird. Hier wird eher für die Station oder für Fachuntersuchungsstellen produziert.“
Vielfalt ist ohnehin nicht der erste Eindruck, den ein Blick in eine Bundeswehrkaserne erweckt – es liegt in der Natur der Sache, dass Uniformen einen einheitlichen Anblick vermitteln. Doch Schnölzer läuft nicht in Flecktarn umher, sondern trägt die weiße Sanitätsuniform – und findet sie großartig. „Ich liebe diese Uniform. Sie macht mit den Schulterstücken sehr viel mehr her als der normale Kittel“, sagt sie. Anders als die Erfahrungen, die sie hier sammelt, kann sie die Uniform aber nicht mit zurück ins zivile Leben nehmen. „Wenn ich könnte, würde ich sie auch bei uns in der Apotheke tragen.“