In manchen Bezirken von Deutschlands Großstädten gehört der Arzneimittelmissbrauch genauso zum Apothekenalltag wie die Blutzuckermessung. Nicht nur gefälschte Rezepte weisen auf eine missbräuchliche Anwendung hin – auch der Wunsch nach expliziten Präparaten sollte die Aufmerksamkeit vom Apothekenpersonal wecken. Im Umgang mit dem Kunden können schnell Probleme auftreten – häufig trifft man auf Unverständnis und Ärgernis. Eine PTA berichtet aus ihrem Neuköllner Alltag.
Der Berliner Bezirk Neukölln gilt als Brennpunkt. In dem Stadtteil leben knapp 330.000 Menschen verschiedenster Nationen. Der Bezirk gilt als „multikulti“. In Neukölln wohnen zahlreiche kinderreiche Familien, viele von ihnen gehören zu den Geringverdienern. Problemschulen, wie die aus Nachrichten bekannte Rütli-Schule, liegen neben sanierten Altbauten am Kanal. Als zentraler Treffpunkt gilt der Hermannplatz, die Fläche grenzt direkt an einen Park an – der Volkspark Hasenheide ist seit Jahren als Drogenumschlagsplatz bekannt. In diesem Kiez ist Julia* in einer Apotheke beschäftigt. Die PTA ist täglich mit Arzneimittelmissbrauch konfrontiert und berichtet im Gespräch mit APOTHEKE ADHOC von ihren Erfahrungen.
ADHOC: Woran erkennst du Kunden, die Arzneimittel missbrauchen?
PTA: Arzneimittel mit Missbrauchpotenzial werden häufig mit gefälschten Rezepten beschafft, weil die Abhängigen oder Dealer auf normalem Weg keine Verordnungen bekommen. Als erstes kommt es also darauf an, was der Kunde vorlegt: Gefälschte Rezepte sind meist Privatrezepte. Diese können nach der Belieferung dann vom Kunden einfach vernichtet werden – das ist unauffälliger als ein GKV-Rezept zur Abrechnung einzureichen. Und das wissen die Kunden ganz genau. Die PKV-Rezepte sind zum Teil täuschend echt und an stressigen Tagen kann das ein oder andere Indiz untergehen. Dazu kommt, dass die meisten ein Bedrucken und Abzeichnen der Verordnung wünschen, um den Schein zu wahren. Auf den Rezepten finden sich bei uns in der Apotheke immer wieder die gleichen Wirkstoffe. Diazepam ist mit am häufigsten. Die meisten, die das Benzodiazepin missbräuchlich anwenden, wünschen einen ganz bestimmten Hersteller. Gewisse Tabletten sind auf dem Schwarzmarkt mehr wert als andere, das erzählen einem die Kunden zum Teil ganz unverblümt. Neben Diazepam sind Bromazepam, Lorazepam und Oxazepam die Wirkstoffe, die am häufigsten vorkommen. Eigentlich alle Benzodiazepine
ADHOC: Woran fallen Fälschungen auf?
PTA: Ab und an hat man Packungsgrößen auf dem Rezept, die gar nicht existieren. Häufiger kommt es vor, dass direkt mehrere Packungen verschrieben wurden, oftmals gekennzeichnet mit einem Ausrufezeichen – diese Vorschrift der Verschreibungsverordnung ist offenbar ebenfalls bekannt. Auch die Schmerzmittel Tramadol und Tilidin werden oft missbräuchlich angewendet. Tilidin-Tropfen und Rohypnol-Tabletten kommen dagegen gar nicht mehr vor, die Kunden haben verstanden, dass es diese beiden Mittel nur noch auf BtM-Rezpt gibt. Als Flunitrazepam noch nicht der BtM-Pflicht unterlag, hatten wir einen Mindestbestand von 15 Packungen.
ADHOC: Die Packungen wurden nur für gefälschte Rezepte an Lager gelegt?
PTA: Nein. Gerade in meiner Anfangszeit habe ich häufig Rücksprache mit den Ärzten gehalten, um mich zu versichern, dass es sich um ein Originalrezept handelt. Ich war überrascht, wie vielen Patienten die Ärzte Benzodiazepine verordnen. Viele erhielten die Tabletten dauerhaft. Die Verordnung erfolgte auch hier auf Privatrezept, die Gründe kann sich jeder selbst überlegen. Zahlreiche Kunden erhielten mehrere Sedativa und Antidepressiva parallel. Ob es sich bei ordnungsgemäßer Verschreibung auch um einen Arzneimittelmissbrauch handelt, ist im Einzelfall schwer zu beurteilen. Manchen Patienten, so scheint es mir, wäre mit weniger Tabletten mehr geholfen.
ADHOC: Wie geht man in der Apotheke vor, wenn man den Verdacht auf Missbrauch hat?
PTA: Das kann man nicht einheitlich beantworten. Klar, in der Apotheke gibt es für alles Leitlinien und auch zum Thema Arzneimittelmissbrauch hat die ABDA eine Arbeitshilfe herausgegeben, aber die lässt sich nicht pauschal anwenden. Was klar ist: Bemerke ich, dass das Rezept gefälscht ist, darf ich es nicht beliefern. Ob ich deshalb weitere Schritte einleite und die Polizei oder die zuständige Behörde informiere, entscheide ich individuell. Handelt es sich um geklaute Rezepte, so informiere ich die Polizei, zumindest nach meiner Erfahrung passiert da aber nicht allzu viel. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein“, das trifft es wohl ganz gut. Das einzig Gute daran ist, dass dadurch andere Apotheken zeitnah informiert werden können. Bei eindeutig gefälschten Rezepten mache ich den Kunden nur selten darauf aufmerksam, das liegt häufig daran, dass mein Gegenüber oft schon nervös ist und ihm der Schweiß auf der Stirn steht.
ADHOC: Hast du Angst vor solchen Kunden?
PTA: Ich habe schon so einiges erlebt. Man bekommt ein Gefühl dafür, ob ein Kunde aggressiv werden könnte. Würde man auf die Fälschung hinweisen, so würde der Kunde die Apotheke im besten Fall einfach verlassen und sein Glück woanders versuchen. Wenn es schlecht läuft, kommt es zu Drohungen. Uns wurden auch schon mehrfach die Regale leergeräumt, einfach aus Wut werfen die Rezeptfälscher Kosmetik & Co. auf den Boden. Wenn ich eine Fälschung bemerke, mache ich es meist so: Ich gehe in den Back-Office-Bereich und spreche mit einem Apotheker. Meistens einigen wir uns darauf, dass das Arzneimittel nicht vorrätig ist, ich es aber gerne bestellen kann. Das wollen die meisten natürlich nicht. Ich weiß, dass ich dem Menschen damit nicht helfe und er in die nächste Apotheke gehen wird. Häufig sind die Menschen, die das Rezept abgeben aber auch gar nicht die Konsumenten – die Käufer sind quasi Zwischenhändler zum Schwarzmarkt.
ADHOC: Abgesehen von diesen Extremfällen, gibt es auch eine Beratungsstrategie bei Arzneimittelmissbrauch?
PTA: Absolut, aber es gibt nicht nur „die eine“ Strategie, je nach Situation handele ich unterschiedlich. Ein Klassiker ist Nasenspray, hier entsteht die Abhängigkeit meist unbewusst und wird von vielen Betroffenen auch als unangenehm erlebt. Wer gleich zwei Packungen der großen Flasche Nasenspray ordert, der wendet das Arzneimittel sicherlich zu häufig und zu lange an. Da frage ich dann schon nach. Tatsächlich ist es immer noch vielen nicht bewusst, dass ein so „einfaches“ Medikament auch zu einer Abhängigkeit führen kann. Je nachdem, welche Art von Kunde vor mir steht, empfehle ich dann den Switch zum Meerwasser-Nasenspray oder hole eine Nasendusche nach vorne und demonstriere die Anwendung. Ich habe gerade bei solchen Beratungsgesprächen oft schon wahre Dankbarkeit erfahren. Schwieriger ist es für mich beim Thema Abführmittel. Gerade ältere Frauen sind schwer belehrbar, da sie davon ausgehen, dass ihre Verdauung ohne die Einnahme dieser Mittel gar nicht mehr funktioniert. Die Personengruppe, die Laxantien zum Abnehmen missbraucht, ist meist weiblich. Hier kann eine ausführliche Beratung tatsächlich helfen. Wenn man ihnen klar macht, dass die Wirkstoffe erst im Dickdarm wirken, und dort schon nahezu alle Kalorien vom Körper aufgenommen wurden, dann hat man gute Chancen, dass die Kundin die Finger von Früchtewürfeln und dergleichen lässt.
ADHOC: Aktuell warnt die AMK vor dem Missbrauch von Dextromethorphan. Was sind deine Erfahrungen?
PTA: Ehrlich gesagt gering. DMP spielt bei uns in der Apotheke kaum eine Rolle, eher die härteren Sachen. Klar haben wir die Kapseln an Lager und geben sie auch regelmäßig ab. Doch einen tatsächlichen Missbrauchsfall hatte ich persönlich erst einmal. Ein Jugendlicher wollte zwei Packungen kaufen – angenblich für seine Mutter. Ich habe ihn dann gefragt, wofür seine Mutter die Kapseln denn einnehmen möchte. Darauf antwortete der Junge nur, dass sie erkältet sei. Als ich nach weiteren vorherrschenden Symptomen fragte, kam er ins Straucheln. Er schlug selber vor, dass er nochmal nach Hause gehen und seine Mutter fragen würde – er kam nie wieder.
ADHOC: Was gibt es sonst für Besonderheiten in Ihrer Apotheke? Spielt Cannabis in Sachen Missbrauch eigentlich auch eine Rolle in der Offizin?
PTA: In Berlin ist es nicht nötig, den Aufwand einer BtM-Rezeptfälschung für Cannabis zu betreiben... Die Beschaffung findet außerhalb der Apotheke statt. Als Besonderheit unserer Apotheke ist es vielleicht, dass wir relativ viele Spritzen und Kanülen auseinzeln. Abhängige können sich für 40 Cent eine sterile Nadel kaufen. Am Anfang war ich skeptisch. Heute weiß ich, dass ich der Person nicht helfen kann, mit dem Konsum aufzuhören. Als Apotheke sind wir dafür die falsche Anlaufstelle. Die sichere Injektion kann zumindest Infektionen vermeiden, von daher ist es gut, wenn Abhängige sich bei uns sauberes Besteck holen. Je nachdem welche Droge konsumiert wird, werden unterschiedliche Kanülengrößen gefordert. Abseits von den Klassikern Heroin oder Methadon gebe ich auch häufig Kanülen an durchtrainierte Männer ab – Testosteron ist die Droge der Fitnessstudios. Diese Kundengruppe ist auch schwer zu belehren. Zum Teil nehmen die Männer sogar Wachstumshormone für Tiere ein, um den Muskelaufbau maximal zu fördern.
*Name von der Redaktion geändert
APOTHEKE ADHOC Debatte