Bisher gab es wenige Berührungspunkte mit Hämophilie-Patienten in der Apotheke, da die Versorgung über spezialisierte Zentren lief. Das hat sich zum 1. September geändert. Für Apothekerin Lara Fürtges stand sofort fest, dass diese Gruppe nun auch über die Apotheke professionell versorgt werden soll. Daher hat sie sich, zusammen mit ihren Kollegen, im Vorfeld intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.
Seit 1. September beliefern wieder Apotheken die Patienten mit Faktor-Präparaten, die bislang direkt in den spezialisierten Zentren abgegeben wurden. Passend zum Inkrafttreten des Gesetzes wurde der Verband der Verband der Hämophilie-Apotheken (VHA) gegründet. Die Medios-Apotheke neben der Berliner Charité, in der Fürtges seit mehreren Jahren arbeitet, ist Gründungsmitglied. Eine gute Beratung der Patienten ist ihr wichtig, sodass sie im Vorfeld zum Thema Hämophilie viel gelesen hat. „Ich würde Apotheken auch immer empfehlen, den Kontakt zum Versorgungszentrum des Patienten aufrecht zu erhalten. Die können oft weiterhelfen und im Gesamtspiel kann man gemeinsam eine lückenlose Versorgung gewährleisten.“
Mit der neuen Versorgung kommt auch ein neues Rezept. Zwar handelt es sich dabei um den normalen Muster-16-Vordruck, doch um Retaxierungen zu vermeiden, müssen Apotheken auf einige Punkte achten. „Die Medikamente gibt es alle bislang nur in eine Größe und zwar N1. Das bedeutet, pro Packung findet der Patient eine Einmalgabe vor.“ Fürtges erzählt, dass die Faktoren, je nach Schweregrad der Krankheit, mitunter täglich gegeben werden müssen. „Um eine faire Zuzahlung zu erzielen, sollten die Rezepte in fiktiven Normgrößen also 5er- oder 30er-Faktoren der Menge verordnet werden. So kann bei der Abrechnung zusammengezogen werden. Ansonsten hätte der Patient jedes Mal die Zuzahlung von 10 Euro zu leisten.“ Hämophilie-Präparate werden gemäß § 3 der Packungsgrößenverordnung (PackungsV) nach ihren Messzahlen zusammengestellt werden, um hohe Zuzahlungen zu vermeiden.
Insgesamt gehen Schätzungen davon aus, dass es 10.000 Menschen mit Hämophilie in Deutschland gibt, davon seien aber nicht alle behandlungsbedürftig. „Es sind ungefähr 4500 Patienten, die dauerhaft eine Therapie erhalten“, erzählt Fürtges. Unter den Betroffenen sind viel mehr Männer als Frauen, das hat mit der Art der Vererbung zu tun: „Grob gesagt gibt das X-Chromosom die Krankheit weiter. Bei einer Frau kann das zweite gesunde X-Chromosom die Blutungsneigung meist so gut ausgleichen, dass die Patienten ein Leben lang nichts merken. Bei den Männern ist das aufgrund des Y-Chromosoms anders.“ Die Erkrankung besteht also von Geburt an. Dennoch, so erzählt die Apothekerin, besteht ein hohes Risiko der Spontanmutation – in bis zu 30 Prozent der Fälle ist es eine Laune der Natur.
„Die Erkrankung lässt sich in drei Schweregrade einteilen: leicht, mittel und schwer. Das ist bei der Beratung wichtig“, erklärt Fürtges. Sie selbst hatte den ersten Kontakt zu einem solchen Patienten während ihres Praktikums in einer Klinikapotheke nach dem Studium. „Das war ein junger Mann und der erzählte dann, dass er sich selbst Medikamente intravenös verabreicht. Das konnte ich erst gar nicht fassen.“ Da die Erkrankung ab Geburt besteht, müssen Eltern auch ihren Neugeborenen die fehlenden Faktoren i.v. verabreichen. „Natürlich zeigen die Eltern zu Beginn Bedenken und Unsicherheit“, erzählt Fürtges, „Bei Babys wird das Präparat noch dazu häufig in die Kopfvene gegeben.“ Hier sieht sie die Apotheke daher eher in beratender Funktion: „Wir werden nicht diejenigen sein, die dem Patienten oder den Eltern zeigen, wie die Injektion tatsächlich funktioniert. Aber wir können uns mit den Erfahrungen des Patienten austauschen, Hilfestellungen geben und eventuell im Gespräch mit dem Arzt die Versorgung weiter verbessern.“
Somit stellen die Produkte eine Besonderheit dar: Laien injizieren sich selbst Medikamente. Im Erwachsenenalter seien viele von den Betroffenen richtige „Injektionsprofis“ geworden, berichtet die Apothekerin. „Über die Jahre wurden die Sets auch immer anwenderfreundlicher, sodass Kontaminationen an Konnektionsstellen oder ein versehentliches Pieksen unwahrscheinlicher geworden sind.“ Die Faktoren liegen in Pulverform vor und müssen vor der Anwendung vom Patienten zunächst rekonstituiert werden. „Je nach Produkt dauert es unterschiedlich lange, bis alle Bestandteile gelöst sind.“ Für die Sicherheit liegt aber auch immer noch ein Filter mit bei. Die benötigte Menge wurde zuvor vom Arzt berechnet. Bei einer Bedarfstherapie sieht das anders aus, da werden zumeist geschätzte Mengen verabreicht – je nach Größe der Verletzung.
Stumpfe Verletzungen und sich nicht schließende Wunden gehören zu den Hauptsymptomen der Hämophilie. „Bei der Geburt wird nicht routinemäßig auf die Erkrankung getestet. Die Eltern bemerken es meist mit der Zeit, beispielsweise durch blaue Flecken an den Knien durch das Krabbeln.“ Die Apothekerin erzählt von Stigmatisierung: Ein Kind, welches beim Arzt aufgrund zahlreicher Hämatome vorstellig wird, wird zunächst meist nicht als Bluter identifiziert. Der Verdacht der häuslichen Gewalt rückt in den Fokus. Das liege auch daran, dass die Erkrankung so selten ist. Nach der richtigen Diagnosestellung sei es wichtig, die Eltern nicht nur fachlich, sondern auch emotional aufzufangen. „Gerade die Mütter machen sich Vorwürfe, da sie die sogenannte Konduktorin, also die stille Überträgerin, waren.“ Fürtges betont, dass die Lebenserwartung bei einer konsequenten Therapie gut sei.
Problematisch sind bei Blutern vor allem die inneren und somit nicht sichtbaren Blutungen. „Bei schweren Verlaufsformen kann es zu Gelenksblutungen kommen. Diese sind sehr schmerzhaft für den Patienten.“ Die regelmäßige Gabe der Faktoren kann diese Gelenksblutungen reduzieren. „Die Patienten können dann natürlich kein ASS oder Ibuprofen zur Schmerzlinderung erhalten. Auch hier kann die Apotheke beratend zur Seite stehen.“ Anders als früher werde heute ein aktiver Lebensstil empfohlen. Dieser schließe auch sportliche Aktivitäten ein, erklärt die Apothekerin.
Hämophilie-Produkte werden auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt. Die Gewinnung aus menschlichen Plasmaspenden existiert auch nach dem Bluterskandal der 70er-Jahre immer noch. Dazu gekommen ist die gentechnische Herstellung der Gerinnungsfaktoren. „Obwohl nur verhältnismäßig relativ wenig Menschen an der Krankheit leiden, gibt es über 20 Produkte.“ Bei den meisten Faktoren sind mehrere Präparate am Markt. Dennoch sollte stets derselbe Hersteller gewählt werden: „Die Faktoren sollten nicht einfach ausgetauscht werden. Es handelt sich nicht um Generika. Die gleichen Faktoren unterschiedlicher Hersteller sind im Detail unterschiedlich. Es können beispielweise während der Herstellung auch unterschiedliche Virus-Inaktivierungsmechanismen verwendet worden sein. Ein Austausch birgt generell immer ein gewisses potentielles Risiko.“ Muss der Patient aufgrund eines Lieferengpasses dennoch auf ein anderes Präparat umsteigen, so sollte der Patient das neue Kit vorgestellt bekommen. „Jedes Kit ist ein wenig anders, daraus können sich andere Schrittabfolgen bei der Injektion ergeben.“
„Wichtig für die Apotheke ist die Chargenübermittlung an den behandelnden Arzt. Denn dieser speist das bestehende Hämophilie-Register weiterhin mit Daten.“ Die Erfassung soll Worst-Case-Szenarien wie den Bluterskandal vor mehreren Jahren vermeiden. Am Ende sei auch die Logistik eine besondere Herausforderung: „Die meisten Produkte müssen gekühlt werden, nur so haben sie eine Haltbarkeit von zumeist 24 Monaten.“ Für die Apotheke kann das natürlich die Neuanschaffung eines Kühlschranks oder einer Kühlzelle bedeuten, wenn gleich mehrere Hämophilie-Patienten quartalsmäßig mit Präparaten versorgt werden. „Der Patient kann die Produkte bis zu sechs Monate bei Raumtemperatur lagern.“ Auch beim Thema Urlaub, Fliegen, Sport und Ernährung steht die Apothekerin den Patienten zur Seite. „Am Ende wollen wir niemandem in die Versorgung hineingrätschen. Ich denke, die Apotheke kann vielmehr ein Teil des gesamten Versorgungsteams werden.“
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