„Wir PTA sind die Mülleimer!“ Silvia Meixner, 04.07.2017 15:15 Uhr
„Ständig muss man sich als PTA beschimpfen lassen“, klagt Anna H. Die PTA aus Süddeutschland hat ihren Job einmal geliebt. Doch das ist lange her. Heute denkt sie darüber nach, noch eine weitere Berufsausbildung zu machen. „Ich würde diesen Beruf kein zweites Mal erlernen und jungen Menschen davon abraten“, sagt sie. Miese Bezahlung, zeitraubende Bürokratie, schwachsinnige Vorschriften. Hier ist ihre Abrechnung nach 35 Berufsjahren.
Ihren richtigen Namen möchte Anna nicht öffentlich lesen. „Schließlich brauche ich den Job noch – auch wenn er mir überhaupt keine Freude mehr macht“, sagt die 55-Jährige. Sie hat Angst, dass ihr Chef ihre Kritik lesen und ihr kündigen könnte. Deshalb sind diese Aufzeichnungen anonym.
Anna ist niemand, der gerne herumnörgelt. Sie ist freundlich, optimistisch und ein Mensch, der im Leben gern mit anpackt. Anna lernt gern, sie liebt den Kontakt mit Kunden und eine gute Beratung ist quasi ihr Lebenselixier. Lange ging das gut. Irgendwann änderten sich die Berufsbedingungen. Erst langsam, unmerklich. Dann wurden es immer mehr Kritikpunkte, die ihr den einstigen Traumberuf nach und nach zur Hölle machten.
Heute sagt Anna: „Hätte ich nur auf den Rat meines Vaters gehört. Er war Bankangestellter und riet mir, eine Banklehre zu machen. Aber ich fand das nicht interessant genug. In der Schule hatte ich mich immer schon für naturwissenschaftliche Themen interessiert. Im Labor zu stehen, hat mir echt Spaß gemacht. Deshalb habe ich PTA gelernt.“ Ihre Bilanz nach mehr als drei Jahrzehnten: „Ich lebe in ständiger Angst, einen Fehler zu machen. Ich überlege seit Langem, etwas anderes zu machen, interessiere mich für Ernährungsberatung oder Kosmetik.“
Ihr derzeitiger Arbeitgeber ist ihr dritter: „In der ersten Apotheke war ich zehn Jahre, in der zweiten zwölf Jahre. Ich hatte damals Traumchefs, so etwas findet man heutzutage gar nicht mehr. Natürlich waren auch die finanziellen Umstände für Apotheker damals besser, der Druck ist für alle größer geworden, die Umsätze sind eklatant zurückgegangen.“ Aber auch das Zwischenmenschliche habe sich geändert, der Ton in der Offizin sei rauer geworden. „Ich habe kürzlich einen Brief gefunden, den mir meine erste Chefin zum zehnjährigen Jubiläum schrieb. Mir sind fast die Tränen gekommen. Früher wurde man auch mal vom Chef gelobt. Mein heutiger Chef hat mich noch nie gelobt.“ Geld sei nicht alles, man wolle als Mitarbeiter auch einmal ein freundliches Wort hören.
Mit dem Start der Gesundheitsreformen begann aus ihrer Sicht die Abwärtsspirale ihres Berufsbildes. „Die Patienten wurden zunehmend ungeduldig. Plötzlich gab es viel mehr zu beachten und zu kontrollieren.“ Ihr gegenüber stehen immer öfter verunsicherte Menschen: „Sie fragen ‚Gibt‘s Probleme?‘. Ich antworte dann: ‚Nein, ich muss nur etwas nachgucken.‘ Ich checke das Medikament, die Krankenkasse, schaue, was die Krankenkasse vorschlägt und so weiter.“
Und gegenüber, das fragende Gesicht, es bleibt.
Oft werden die Kunden dann auch ungehalten: „Man muss sich immer wieder erklären. Früher habe ich die Schublade aufgemacht, um die Medikamente herauszunehmen. Ich habe per Hand geschrieben und trotzdem war der Verkaufsvorgang schneller als heute mit Kommissionierer.“ Anna nimmt gern an Fortbildungen teil und ist nicht technikfeindlich. Aber sie sieht durchaus Schwächen im System: „Man glotzt den ganzen Tag nur auf den Bildschirm und muss höllisch aufpassen, dass man sich nicht verspringt. Du musst aufpassen, dass du die Abgabe begründest, wenn sie sofort verlangt wird und so weiter. Du stehst gefühlt mit einem Bein immer im Gefängnis.“
Dass im Ernstfall ihr Chef als Apotheker die Verantwortung trägt, mag sie dabei nicht gelten lassen: „Am Ende ist es dann doch mein Fehler, ich kann doch nicht erwarten, dass jemand anderer dafür seinen Kopf hin hält.“ Und das bei aus ihrer Sicht schlechter Bezahlung: „Die Verantwortung, die wir PTA in Sachen Arzneimittelsicherheit tragen, steht in keiner Relation zum Gehalt.“
Sie rechnet vor: „Seit 15 Jahren müsste ich in der höchsten Tarifklasse sein. Bin ich aber nicht. Früher haben die Apotheken generell rund 10 Prozent über Tarif bezahlt, mindestens. Und es gab Weihnachtsgeld und wenn man den Job besonders gut machte, auch mal 20 Prozent über Tarif. Ich arbeite 20 Stunden pro Woche, weil ich mehr gar nicht mehr aushalten würde. Ich verdiene 1545 Euro brutto, es gibt kein Weihnachtsgeld.“ Die Beurteilung ihrer finanziellen Lage mit einem Wort: frustrierend.
Mitarbeitergespräche, in denen es um eine Gehaltserhöhung gehe, seien zunehmend bizarr. „Als ich meinen Chef vor Kurzem um mehr Geld fragte, antwortete er, ich würde ‚utopisch viel‘ verdienen. Ich war entsetzt und sprachlos.“ Manchmal rechnet sich Anna, quasi zum Trost, vor, dass es ihr vergleichsweise gut gehe: „Es gibt noch tausend andere Berufe, die auch schlecht bezahlt sind: Arzthelferin, Friseurin oder Busfahrer zum Beispiel.“
Mit vielen hat sie Mitleid: „Ich denke mir, mein Gott, das sind Familienväter, wie wenig bringen die nach Hause?“ Ihr Mann arbeitet in Festanstellung in einem weltweit tätigen Unternehmen. „Er hat zum Glück eine krisensichere Anstellung.“ Sie erinnert sich an den Tag, an dem ihr Vater erzählte, was die Putzfrau in seiner Bank verdiente: „Viel mehr als ich. Das war frustrierend.“
Denn ihr Beruf sei mit viel Verantwortung verbunden: „Wir haben letztendlich mehr Verantwortung als die Ärzte. Es passiert immer wieder, das Ärzte etwas aufschreiben und nicht beachten, dass die verschiedenen Medikamente sich nicht vertragen. Als Mensch kannst du nicht alles im Kopf haben, aber der Computer hat es. Gebe ich zum Beispiel Wick Medinait und ein Nasenspray ein, klappt sofort ein Fenster auf, dass das zu viel ist.“ Das ist die gute Seite an der Arbeit mit dem Computer.
Wenn nur die Kunden nicht so ungeduldig wären!
„Viele bestehen darauf, ihr altes Medikament zu bekommen, obwohl es die Gesundheitsreform jetzt schon so lange gibt. Sie wollen stur immer noch ihr uraltes Medikament haben, fordern die gleiche Schachtel wie immer.“ Das absolute „Totschlag-Argument“ bei diesen für Apothekenmitarbeiter unerfreulichen Dialogen: „Sie sagen, dass sie dieses Medikament nicht vertragen würden. Und dass sie alle anderen schon ausprobiert hätten.“ Anna sagt resigniert: „Irgendwann hat man keine Lust mehr, sich für alles rechtfertigen zu müssen.“
Jungen Menschen würde sie vehement davon abraten, den Beruf der PTA zu erlernen. „Ich bin davon überzeugt, dass die Apotheken in den kommenden Jahren weiter Probleme haben werden. Die alten Kunden, die in die Apotheke vor Ort gehen, sterben langsam aus. Und die Jungen bestellen online.“ Natürlich kennt auch sie wie jede PTA jene Patienten, die sich in der Apotheke vor Ort beraten lassen und dann gönnerhaft mitteilen: „Ich kaufe das im Internet, da ist es viel günstiger.“
Anna wird kurz wütend: „Gerne wird das noch mit dem Satz ‚Ihr müsst online wirklich endlich mal was machen‘ garniert. Wir können mit den Internetpreisen nicht mithalten. Ein Beispiel: Ein Flohmittel für Hunde wurde mir von einem Kunden als im Internet viel billiger angepriesen. Weil ich es genau wissen wollte, habe ich nachgeschaut. Der Online-Preis lag unter unserem Einkaufspreis. Da kann ich nur sagen: Da können – und wollen! – wir nicht mithalten.“
Sogar von Arzthelferinnen werde sie gelegentlich von oben herab behandelt und beschimpft. „Wir bieten gern einen exzellenten Service. Manche Arztpraxen werden von uns dreimal täglich beliefert und wenn sie kurz vor Ladenschluss noch etwas brauchen, fahren wir klaglos hin, auch wenn wir genau wissen, dass sie das bei der vorherigen Bestellung nur vergessen haben, was sie niemals zugeben würden. Kürzlich hat mich eine Arzthelferin wegen unserer ‚hohen Preise‘ beschimpft. Ich habe meine Wut herunter geschluckt.“ Obwohl ihr einige Antworten auf der Zunge lagen, schwieg Anna. „Der Kunde ist schließlich König.“
Sie glaubt, dass sich die Schattenseiten des PTA-Berufes langsam herumsprechen würden. Dies zeige sich unter anderem bei der Suche nach neuen Mitarbeitern, die immer schwieriger werde: „Wir haben in den vergangenen zwei Jahren immer mal wieder eine PTA gesucht. Ich kann nur sagen: Es ist sehr schwer, arbeitswillige PTA zu finden. Vermutlich wird dieser Beruf eines Tages aussterben.“
Wäre sie noch einmal 18 Jahre alt, ihre Berufspläne wären klar: „Ich habe das Gymnasium nach der 10. Klasse abgebrochen und dann die PTA-Ausbildung gemacht. Heute würde ich Abitur machen und studieren. Nichts mit Pharmazie oder Naturwissenschaften, auf jeden Fall etwas Technisches.“
Warum sie immer noch in der Offizin steht? „Teile meines Berufes machen mir noch Spaß. Vor allem beraten und verkaufen. Eine gute Beratung macht richtig Freude. Einige Kunden bedanken sich sogar dafür. Dann sage ich ‚Dafür sind wir da‘ – und freue mich. Wir PTA sind die Mülleimer, halbe Psychologen, halbe Ärzte. Viele unserer Kunden gehen schon gar nicht mehr zum Arzt, sie sagen, was soll ich da, bei Ihnen werde ich viel besser beraten.“ Ein weiterer Pluspunkt lässt Anna gern zur Arbeit gehen: „Ich lerne gerne dazu, liebe Fortbildungen.“
Dafür nehme sie auch den permanenten Stress in Kauf: „Immer weniger PTA müssen immer mehr leisten. Alle Apotheker sparen am Personal, wo es nur geht.“ Schlangen in der Offizin blieben da nicht aus. „Wir haben oft eine knackige Kundenzahl“, erzählt sie. „Und die Kunden werden schnell ungeduldig, schneller als früher. Ich verstehe das nicht. Für Essen und Trinken stehen die Menschen alle brav in der Schlange, zu Ostern oder Weihnachten zum Beispiel, wenn es um den Festtagsbraten oder um die Gans geht. Da kann es so lange dauern, wie es will, am Fleischtresen haben die deutschen Geduld. Aber in der Apotheke muss alles immer schnell gehen. Ich verstehe das nicht!“
Schlechte Arbeitsbedingungen, keine Chance auf Besserung der Lage – andere Berufsgruppen hätten da längst große Plakate gemalt, die Medien informiert und wären auf die Straße gegangen. Warum machen das Apotheker und PKA nicht? „Ich verstehe das auch nicht. Die Apotheker gehen nie auf die Straße. Ich erinnere mich dunkel an eine Protestaktion, bei der wir die Scheiben abgeklebt und Plakate ins Fenster gehängt haben. Eine richtige Demo gegen die Missstände gab es in Deutschland noch nie.“
Anna glaubt, dass das daran liegt, dass viele Menschen das sowieso nicht ernst nehmen würden: „Das alte Klischee vom reichen Apotheker ist leider immer noch weit verbreitet. Und tatsächlich war es bis zur Gesundheitsreform ja auch so, dass Apotheker nicht schlecht verdient haben. Das hat sich allerdings total geändert.“
Auf die Frage, ob in den vergangenen Jahren in Deutschlands Apotheken irgendetwas besser geworden sei, antwortet sie bestimmt: „Nein! Nichts. Vor Kurzem fragte mich eine junge Kollegin, wie lange sie noch arbeiten müsse. Ich habe ihr vorgerechnet, dass es noch rund 40 Jahre seien. Sie war total entsetzt. Bei uns in der Apotheke sind sich alle Kolleginnen einig. Leider. Alle sagen, dass sie den Beruf der PTA kein zweites Mal ergreifen würden.“ Und über allem schwebt stets der gut gemeinte Ratschlag ihres Vaters: „Kind, geh‘ zur Bank.“ Zu spät für Anna H.