Auf den Spuren der Trickbetrüger Alexander Müller, 10.09.2020 10:54 Uhr
Trickdiebe perfektionieren ihre Masche und wenden sie dann so lange an, bis sie sich zu weit herumgesprochen hat und nicht mehr funktioniert. Die Methode „Hose runter“ wurde offenbar eigens für Apotheken entwickelt. Die bislang bekannten Fälle zeigen einen erstaunlich hohen Grad der Übereinstimmung. Jetzt hat es erneut eine Apotheke in Berlin erwischt. Die Inhaberin geht mit Details an die Öffentlichkeit, um ihre Kollegen zu warnen.
Auch in diesem Fall war eine PTA alleine am HV-Tisch, als die falsche Kundin die Leuchtturm-Apotheke in Berlin Hermsdorf am nördlichen Stadtrand betrat. Etwas später kam eine Kollegin hinzu. Sie ist eine Pharmazieingenieurin mit viel Berufserfahrung, musste selbst schon einige Ausraster von Kunden miterleben, Diebstahl und sogar einen Überfall – und war trotzdem in dieser Situation so perplex wie viele ihrer Kollegen.
Die Kundin, eher klein von Gestalt, gut gekleidet und mit Kopftuch, Brille und Mundschutz versehen, hatte zunächst in einer Mischung aus gebrochenem Deutsch und Englisch und gestikulierend über Schmerzen am Gesäß geklagt und mit Gesten Richtung Sichtwahl Voltaren verlangt. Einen 200-Euro-Schein hatte sie schon in der Hand. Die Pharmazieingenieurin kann sich vorstellen, dass zu diesem Zeitpunkt der ebenfalls typische Wechselgeld-Betrug noch als Option im Raum stand.
Doch es kam anders: Als die PTA den Schein im Backoffice mit ihrer Kollegin prüfen wollte, kam die Kundin selbst nach hinten und entblößte sich. Die beiden Angestellten der Apotheke wollten sie wieder nach vorne bugsieren, doch die Frau hielt sich an den Tischen fest. „In dem Moment muss sie sich die großen Scheine gegriffen haben“, vermutet die Pharmazieingenieurin. Ausgerechnet an diesem Tag hatte sich nämlich der Kassenabschluss wegen eines Softwarefehlers verzögert, so dass eine Kassenschublade herumstand.
Schließlich stürmte die Kundin, immer noch halb nackt, wieder nach vorne in die Offizin, verlangte noch ein Antibiotikum, und verließ „Rassist! Rassist!“ rufend die Apotheke. Dass in der Kassenschublade insgesamt 650 Euro fehlten, bemerkte das Apothekenteam erst später. Die Polizei wurde gerufen, nahm sogar Fingerabdrücke von der Tischplatte, verbreitete aber wenig Hoffnung in der Leuchtturm-Apotheke. Oft würden unterschiedliche Personen für den eigentlichen Diebstahl eingesetzt. Gegenüber APOTHEKE ADHOC bestätigte ein Sprecher der Berliner Polizei, dass es sich in solchen Fällen sehr wahrscheinlich um eine Gruppe mit mehreren Tätern handelt.
Dafür spricht auch, dass vergleichbare Fälle immer nach demselben Muster ablaufen: Eine Kundin schildert schwer verständlich ihre Beschwerden am Gesäß und verschafft sich irgendwann Zugang zum Backoffice, wo sie sich entblößt. In der dann entstehenden Verwirrung nimmt sie alles, was sie schnell greifen und verschwinden lassen kann, Bargeld oder Wertgegenstände der Mitarbeiter. Es sind zum Tatzeitpunkt nie weitere Kunden anwesend, auffällig häufig auch der Inhaber nicht, regelmäßig wird der Zeitpunkt des Kassemachens abgepasst. Und es sind vor allem kleine Apotheken ohne Videoüberwachung und mit gut einsehbarem PKA-Bereich betroffen. All das deutet auf ein umfangreiches Ausspähen im Vorfeld der Tat hin.
Zu diesem Schluss kommt auch der Versicherungsexperte Michael Jeinsen. Er kennt allein in Berlin drei Fälle, mindestens vier weitere sind bei der Versicherung Pharmassec bekannt, alle innerhalb von zwei Monaten in Berlin und München. Schon im Mai gab es mehrere Vorfälle in Nordrhein-Westfalen und Niedersachen. Weil die Schadensverläufe geradezu identisch sind, ist man sich bei Pharmassec sicher, dass es sich nicht um Zufälle oder Nachahmer handelt. Jeinsen kann sich sogar vorstellen, dass die Bande eine Art Trainingsapotheke hat, so perfekt seien die Auftritte.
Im Raum München wurden kurz vor der Schließung 2250 Euro erbeutet, in Potsdam sogar 2500 Euro, beide Male war der Inhaber nicht da. In Berlin lagen die Schadenssummen bislang zwischen 800 und 1700 Euro, in einem Fall wurden zusätzlich Medikamente aus der Sichtwahl geklaut. Im sauerländischen Hemer lag der Schaden bei 650 Euro. Auch im benachbarten Iserlohn war eine Frau mit der Masche aktiv gewesen.
Die Leuchtturm-Apotheke in Berlin ist mit 650 Euro Schaden also vergleichsweise glimpflich davongekommen. Der wirtschaftliche Schaden sei aber gar nicht das Schlimmste, berichtet die betroffene Pharmazieingenieurin. „Man bekommt die Bilder nicht aus dem Kopf“, sagt sie. Inhaberin Ulrike Hunnius und ihr Team haben auf den Vorfall reagiert: Ab sofort bleiben immer mindestens zwei Kollegen vorne und der Zugang ins Backoffice wird durch verschiedene Maßnahmen erschwert. Auch Kameras sollen jetzt installiert werden.