Die lang erwartete Vergleichsstudie zum Bottroper Apothekenskandal ist erschienen und deutet auf das, was von vielen befürchtet wurde: Patient:innen, die Zytostatika-Zubereitungen aus der Alten Apotheke erhielten, benötigten signifikant mehr Infusionen als Patient:innen, die aus anderen Apotheken versorgt wurden. Außerdem wurden sie nach erfolgreicher Therapie schneller rückfällig. Die Ergebnisse deuten laut Studie darauf hin, dass Inhaber Peter S. nach dem Zufallsprinzip unterdosiert hatte, Patienten also durchaus manchmal vollständige Zytostatika enthielten, bei anderen Verabreichungen wiederum nicht – ihre Therapie hätte er damit zu einem Glücksspiel gemacht.
Bis heute ist nicht genau zu bemessen, wie viel Schaden Apotheker Peter S. durch gepanschte Zytostatika tatsächlich angerichtet hat. Insbesondere auf individueller Ebene lassen sich im Nachhinein kaum Erkenntnisse gewinnen. Das Gericht musste sich deshalb 2018 eines Kniffs bedienen, um die Schuld des Apothekers zu beziffern: Da nicht jeder Fall einzeln nachgewiesen werden konnte, wurden eingekaufte und abgerechnete Wirkstoffe abgeglichen. Das Gericht ging dann zu seinen Gunsten davon aus, dass möglichst viele Zubereitungen wie vorgeschrieben hergestellt wurden, und legte ihm die Differenz zur Last. Fest steht jedenfalls: S. hat tausende Zytostatika-Zubereitungen bewusst unterdosiert und sich so auf Kosten Krebskranker Millionen Euro an zusätzlichen Einnahmen erschlichen. Von den 117 Zubereitungen, die bei der Razzia im Herbst 2016 sichergestellt wurden, enthielten nur 44 Prozent den ärztliche verschriebenen Wirkstoffgehalt. Die übrigen 56 Prozent – insgesamt 66 Zubereitungen – enthielten lediglich 10 bis 20 Prozent des verordneten Wirkstoffgehalts.
Wie viele Zubereitungen genau wie viel Wirkstoff enthielten, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen – die Auswirkung auf patientenindividueller Ebene erst recht nicht. Die vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) in Auftrag gegebene Vergleichsstudie unter Leitung von Professorin Dr. Ulrike Haug vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen sollte deshalb zumindest auf statistischer Ebene etwas mehr Klarheit in den Fall bringen. Da die Versichertendaten die Information enthalten, aus welcher Apotheke Krebspatientinnen und -patienten parenterale Krebstherapeutika erhalten haben, bieten diese Daten die Möglichkeit, Krankheitsverläufe zwischen Patientengruppen zu vergleichen.
Schon eine erste Auswertung der AOK Rheinland/Hamburg aus dem Jahr 2018 erfolgte auf dieser Grundlage: Demnach zeigte sich bereits damals bei Patient:innen mit nicht-soliden Tumoren eine höhere Sterberate und bei Brustkrebspatientinnen eine höhere Rezidivrate als in der Kontrollgruppe. Allerdings habe diese Auswertung auf einer geringen Fallzahl basiert und methodische und konzeptionelle Schwächen aufgewiesen, so die jetzige Studie. Haug und ihre Kolleg:innen haben deshalb eine gematchte Kohortenstudie mit dem Auftreten von Rezidiven bei Brustkrebspatientinnen und dem Versterben von Patient:innen mit nicht-soliden Tumoren (NST) als primäre Endpunkte konzipiert. Die Untersuchung deckt die Jahre 2004 bis 2016 ab.
Dabei stützten sie sich auf Daten der pharmakoepidemiologischen Forschungsdatenbank (GePaRD), die Abrechnungsdaten von vier gesetzlichen Krankenversicherungen enthält und demnach ungefähr 20 Prozent der deutschen Allgemeinbevölkerung abdeckt. Zusätzlich wurden die Daten der AOK Nordwest herangezogen, um den Abdeckungsgrad in den vermutlich am stärksten betroffenen Landkreisen zu erhöhen. Nach Anwendung der Ein- und Ausschlusskriterien und nach dem Matching wurden schließlich 1.234 Brustkrebs- und 730 NST-Patient:innen eingeschlossen.
Von den Brustkrebspatientinnen erhielten 255 ihre Zytostatika aus der Alten Apotheken, 979 gehörten zur Kontrollgruppe. Bei den NST-Patient:innen war das Verhältnis 149 zu 581. Und die Ergebnisse sind eindeutig: „Sowohl bei den Brustkrebspatientinnen, als auch bei den NST-Patientinnen und Patienten war die Gesamtzahl an Tagen, an denen individuell zubereitete Krebstherapeutika abgegeben wurden, in der Gruppe Apotheke Bottrop im Median um ein Drittel höher als in der Kontrollgruppe. Dieser Unterschied erwies sich als statistisch signifikant“, so die Studie.
Kein Unterschied hat sich allerdings bei der Anzahl der Rezidive unter den Brustkrebspatientinnen gezeigt: Während der Nachbeobachtungszeit kam es sowohl in der Gruppe Apotheke Bottrop als auch in der Kontrollgruppe bei 26 Prozent zu einem Wiederauftreten. „Auffallend war aber, dass die Zeit bis zum Wiederauftreten in der Gruppe Apotheke Bottrop im Median kürzer war als in der Kontrollgruppe.“ So kehrte der Krebs bei den aus der Alten Apotheke versorgten Patientinnen nach 565 Tagen wieder, bei der Kontrollgruppe dauerte es hingegen 638 Tage. Ebenfalls kein Unterschied konnte bei der Sterberate der NST-Patient:innen festgestellt werden: Sowohl in der Gruppe Apotheke Bottrop als auch in der Kontrollgruppe war etwa ein Drittel während des Nachbeobachtungszeitraums verstorben; auch die Zeit bis zum Versterben war in beiden Gruppen ähnlich. Hinsichtlich des Versterbens war zwischen beiden Gruppen also kein Unterschied festzustellen.
Die betroffenen starben also weder häufiger, noch wurden sie häufiger rückfällig. Dafür benötigten sie mehr Infusionen und wurden schneller rückfällig. Die Studienautoren bieten als mögliche Erklärung an, dass bei den klinischen Verlaufskontrollen in der Gruppe Apotheke Bottrop häufiger ein noch nicht ausreichender Therapieeffekt beobachtet wurde und deshalb länger therapiert wurde. Die Erkenntnisse vom Tag der Festnahme des Apothekers legten nahe, dass knapp die Hälfte der bei ihm hergestellten Krebstherapeutika den ärztlich verschriebenen Wirkstoffgehalt aufwies. „Wenn es der Apotheker bei der Unterdosierung nicht gezielt auf bestimmte Patientinnen oder Patienten abgesehen hatte, wovon derzeit auszugehen ist, wäre es ein gewisser Zufallsprozess gewesen, welche Person wie oft eine Zubereitung erhielt, die nicht den ärztlich verschriebenen Wirkstoffgehalt aufwies“, so die Studienautoren. „Dementsprechend hätte sich bei einer Verlängerung der Therapie die Chance erhöht, dass die Person Zubereitungen mit normalem Wirkstoffgehalt erhielt.“
Allerdings: Auch wenn beim zweiten primären Endpunkt – dem Versterben von Patient:innen mit nicht-soliden Tumoren (NST) – keine Häufung beobachten ließ, heiße das nicht automatisch, dass durch die Machenschaften des Apothekers nicht mehr Menschen gestorben sind. „Die Tatsache, dass bei Brustkrebspatientinnen der Gruppe Apotheke Bottrop der Zeitraum bis zum Auftreten im Median kürzer war als in der Kontrollgruppe, könnte mittel- bis langfristig durchaus zu Unterschieden im Überleben führen beziehungsweise geführt haben.“ Um Unterschiede im Überleben bei Brustkrebspatientinnen fundiert beurteilen zu können, bedürfe es einer Erweiterung der Fallzahl und eines noch längeren Beobachtungszeitraums.
„Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier um die Ergebnisse des Gruppenvergleichs handelt. Es kann daraus nicht geschlossen werden, dass die unterdosierten Zubereitungen aus der Apotheke Bottrop bei keinem der betroffenen Patientinnen beziehungsweise Patienten zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf geführt haben“, erklärt Haug. „Man sollte aber auch bedenken, dass die längerfristigen Auswirkungen noch nicht abschließend beurteilt werden konnten. Dazu wäre eine noch längere Beobachtungszeit interessant.“ Laumann wiederum hofft, mit der Studie bereits jetzt einen wichtigen Beitrag geleistet zu haben. „Bei dem Fall des Bottroper Apothekers handelt es sich um ein unfassbares Verbrechen, dass mich zutiefst erschüttert hat. Das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung wurde durch diesen Fall schwer beschädigt“, so Laumann. „Ich hoffe, die Studienergebnisse tragen zur Aufklärung der Auswirkungen dieser nicht ordnungsgemäßen medikamentösen Versorgung bei.”
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