Zyto-Ausschreibungen

Bundessozialgericht kippt freie Apothekenwahl

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Kassel -

Die AOK Hessen darf Apotheken auf Null retaxieren, wenn diese ohne Vertrag Versicherte mit Krebsmedikamenten versorgen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat soeben die Klage eines Apothekers gegen eine fünfstellige Retaxation abgewiesen. In dem Grundsatzstreit um die Ausschreibung der Kasse zu Sterilrezepturen geht es insgesamt um einen zweistelligen Millionenbetrag – und um den Grundsatz der freien Apothekenwahl.

Wie wichtig die Entscheidung für die gesamte Branche ist, war schon vor Beginn der Verhandlung klar: Etwa 60 Zuschauer drängten am Morgen in den Jacob-Grimm-Saal des BSG in Kassel. Zusätzliche Stühle mussten herangeschafft werden. Der Gong klingelte pünktlich, doch die Richter mussten erst noch für das Kamerateam des Hessischen Rundfunks posieren. Nach gut einer Stunde mündlicher Verhandlung zog sich das Gericht zur Beratung zurück.

Soeben verkündete der Senat seine Entscheidung: Die Retaxation der AOK Hessen gegen den Apotheker bleibt bestehen, seine Klage wurde abgewiesen. Die schriftliche Begründung des Urteils steht noch aus. Doch schon in der Verhandlung hatte der Vorsitzende Richter Professor Dr. Ulrich Wenner erkennen lassen, dass er pro AOK entscheiden würde.

Die Kasse hatte 2013 mit zwölf Apotheken Verträge geschlossen. Die Ausschreibung war von Anfang an umstritten. Die Situation eskalierte, als Apotheken retaxiert wurden, weil sie ihre Patienten weiterhin mit Zytostatika versorgten. Rainer Schüler, Inhaber der Fliederberg-Apotheke in Darmstadt, ist einer der betroffenen Apotheker. Er arbeitet bereits seit 15 Jahren mit einer Arztpraxis zusammen und belieferte deren Rezepte weiter. Die Patienten bestätigten ihm schriftlich, dass sie weiterhin auf diesem Weg versorgt werden möchten.

Aus Sicht der AOK war Schüler allerdings nicht lieferberechtigt – die Kasse retaxierte alle Rezepte auf Null. Es geht um mehr als 70.000 Euro, allein für den Dezember 2013. Der Apotheker legte über den Hessischen Apothekerverband (HAV) Widerspruch ein und klagte schließlich gegen die Kasse. In erster Instanz war er erfolgreich.

Vor dem BSG zielte die AOK darauf ab, zwei unterschiedliche Sachverhalte zu konstruieren: die Regelversorgung, bei der ein Patient ein Rezept bekommt und in eine Apotheke seiner Wahl geht, und die Zytostatika-Versorgung, bei der es ohnehin keine freie Apothekenwahl gibt. Warum ein Versicherter bei der Direktbelieferung eine Auswahlentscheidung haben solle, sei nicht nachvollziehbar.

Wenner sagte in der Verhandlung, dass die Apothekenwahl im Bereich der Zytostatika ohnehin eingeschränkt sei – schließlich kann nicht jede Apotheke die speziellen Zubereitungen überhaupt herstellen. Er konnte sich keine Konstellation vorstellen, bei der Patienten nach einer bestimmten Apotheke fragen, ohne dass sie vom Arzt oder dem Apotheker dazu gebracht worden seien. Er unterstellte, dass kein Versicherter mit dem festen Wunsch in die Praxis komme, von einer bestimmten Apotheke beliefert zu werden.

Der Vorsitzende Richter bezweifelte auch, dass es medizinisch notwendig sei, Patienten „ad hoc“ mit Zytostatika zu versorgen. Schließlich habe sich Schüler selbst bei der Ausschreibung für das Los Frankfurt beworben und viele Apotheken würden von Herstellbetrieben beliefert. Wenn die Wirtschaftlichkeit hinten angestellt werden solle, müssten aus seiner Sicht Gründe dafür vorgebracht werden. „'Ich will nicht' ist kein Grund, der gegen die Wirtschaftlichkeit Bestand hat – und dabei bleiben wir wohl auch heute“, sagte er schon in der Verhandlung.

Bei der AOK griff man dieses Argument gerne auf und betonte, dass nicht jede onkologische Praxis über eine Apotheke im Haus verfüge, die Zytostatika herstellen könne. Ein Großteil der Zubereitungen werde aus Herstellungsbetrieben geliefert. Uneinigkeit gab es, als Wenner wissen wollte, wie häufig Zytostatika-Zubereitungen ad hoc hergestellt werden. Ein Apotheker aus dem Publikum erklärte, dies sei bei jeder der Fall, die AOK verwies auf die funktionierenden Zytostatika-Verträge in Berlin.

Wenner betonte, dass es letztlich um die Hebung von Wirtschaftlichkeitsreserven gehe – „schließlich wird das System für die Versicherten veranstaltet“. „Vielleicht gibt es Versicherte, die keinen Krebs haben und an niedrigen Beiträgen interessiert sind?“, stellte er in den Raum. Der Richter konnte sich nicht vorstellen, dass ein Arzt den Krebspatienten gegen seine Überzeugung den Vertragspartner empfiehlt – und wer sollte die Patienten sonst davon überzeugen, sich für den Rabattpartner zu entscheiden.

Vom Sozialgericht Darmstadt (SG) hatte Schüler Ende August 2014 noch recht bekommen. Aus Sicht der Richter hatten die Ärzte gute Gründe, die Apotheke zu empfehlen. Die „ad hoc Belieferung“ ermögliche schnelle und sichere Änderungen in der Therapie. Die Apotheke des Vertragspartners liege hingegen knapp 50 Kilometer entfernt.

Darüber hinaus betonte das Gericht das Apothekenwahlrecht: Im Sozialgesetzbuch (SGB V) ist geregelt, dass die Versicherten frei unter den Apotheken wählen können. Einschränkungen bedürften einer besonderen Begründung. Die Kasse könne zwar Verträge über die Versorgung schließen – dies bedeute aber kein Recht auf Exklusivität.

Einen zweiten Prozess vor dem Sozialgericht Marburg hatte die Kasse ebenfalls verloren. Weil die AOK den Apotheker aus Sicht des Gerichts unrechtmäßig retaxiert hatte, sollte er sogar den Kassenabschlag zurückbekommen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, die AOK sei nicht befugt, über Verträge ein „exklusives“ Versorgungssystem einzurichten. Die Kasse hat hier auf die Sprungrevision zum BSG verzichtet und stattdessen Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt eingelegt. Einen Termin wird es in diesem Jahr nicht mehr geben, alle Beteiligten wollten vermutlich auf die Entscheidung aus Kassel warten.

Der HAV hat auch für diese sowie rund ein Dutzend andere Apotheker die Einspruchsbearbeitung übernommen. In Summe geht es um einen zweistelligen Millionenbetrag. Die AOK hatte auch in den folgenden Monaten retaxiert, nach Gesprächen mit dem HAV aber auf eine tatsächliche Rechnungskürzung bislang verzichtet.

Rabattverträge über Zytostatika-Zubereitungen sind generell umstritten. In Berlin laufen die Ausschreibungen seit 2010, mittlerweile weitgehend reibungslos. Im Juni hat die AOK Nordost bereits zum vierten Mal die Versorgung ausgeschrieben. Und tatsächlich gab es eine kleine Überraschung: Zwei Lose hat die Apotheke im Haus der Gesundheit gewonnen, die die Rezepturen selbst anfertigt. Den Rest holten drei Apotheken um den Herstellbetrieb Zytoservice Berlin, die bereits seit einigen Jahren bei der Kasse im Geschäft sind.

In Nordrhein-Westfalen hingegen war 2012 die Barmer mit einer Zyto-Ausschreibung gescheitert. Die Kasse erklärte, die Ausschreibung habe aufgrund mangelnder Akzeptanz bei den Ärzten nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Die Umsteuerung der Patienten sei nicht gelungen. Die teilnehmenden elf Apotheken aus dem Omnicare-Verbund hatten die Verträge daher außerordentlich gekündigt, nur drei Monate nach ihrem Start.

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