Wladimir Putin hat in Russland die uneingeschränkte Macht. Kaum jemand im eigenen Land wagt Kritik oder gar Widerstand gegen seinen Angriffskrieg in der Ukraine – selbst westliche Konzerne, die vor Ort aktiv sind und es bleiben wollen, müssen kuschen. In bester Geheimdienstmanier hat es der ehemalige KGB-Mann verstanden, Gegner gezielt auszuschalten und ein Netzwerk an Seilschaften und Abhängigkeiten zu installieren. Angefangen hat er als Strippenzieher für die aufstrebenden Fürsten aus der Wirtschaft, wie auch ein Beispiel aus dem Apotheken- und Pharmamarkt zeigt.
In den 1980er Jahren war Putin als kleiner KGB-Mann in Dresden stationiert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion trieb es ihn zurück in seine Heimatstadt St. Petersburg, wo er durch einen Zufall einen Job im Büro des Bürgermeisters bekam: Sein ehemaliger Professor Anatoli Sobtschak machte ihn zum Chef des Komitees für Außenbeziehungen – und Putin wusste die Position auch für sein eigenes Fortkommen zu nutzen. Als Vorwürfe der Bestechung unüberhörbar wurden und sich sogar Moskau einschaltete, musste Sobtschak sich schützend vor ihn stellen. Putins Ziehvater, der auch als Mentor Dmitri Medwedews gilt, war zu jener Zeit einer der fünf wichtigsten Männer in Russland, dem zeitweise sogar Chancen auf das Präsidentenamt nachgesagt wurden.
In St. Petersburg half Putin auch dem Apotheker David Panikashvili dabei, die Apothekenkette „Apteka 77“ aufzubauen. Der Mann aus Georgien hatte in der Stadt Pharmazie studiert und ab 1986 die gleichnamige Apotheke am Moskovskiy Prospekt als Direktor geführt. Als 1994 der finnische Großhändler Tamro in der Metropole Fuß fassen wollte, vermittelte Putin den Kontakt zu Panikashvili – und unterzeichnete kurz darauf, mittlerweile als Vizebürgermeister, die Gründungsurkunde des Gemeinschaftsunternehmens „Pharm Tamda 77“. Tamro investierte eine Million Euro und übernahm 60 Prozent der Anteile.
Während Putin später nach Moskau ging und dort politische Karriere machte, begann in St. Petersburg Panikashvilis wirtschaftlicher Aufstieg. Als Großhändler belieferte „Pharm Tamda 77“ zunächst Apotheken im Nordwesten des Landes; innerhalb weniger Jahre sicherte sich das Unternehmen einen lokalen Marktanteil von 18 Prozent. 2003 brachten die Eigentümer die Firma in ein neues Joint Venture ein: Aus Tamda sowie den Mitbewerbern Rossib aus Novosibirsk und Artromed aus Samara entstand Rosta. Insbesondere Rossib brachte ein riesiges Vertriebsgebiet mit, das sich weit bis nach Sibirien zog. Der neue Großhändler war damit nicht nur flächendeckend aufgestellt, sondern drängte nun auch in Moskau auf den Markt.
Zu diesem Zeitpunkt war die Merckle-Gruppe gerade dabei, die Mehrheit an Tamro zu übernehmen. Phoenix hatte im Jahr 2000 zunächst ein Drittel der Aktien übernommen; Firmenchef Adolf Merckle hatte in den folgenden Jahren über eine Reihe von Beteiligungsfirmen weitere 20 Prozent zugekauft, ohne dies entsprechend bekannt zu machen, was nach seinem Tod noch zu einem Prozess vor dem Bezirksgericht Helsinki führen sollte. 2004 gehörte Tamro komplett zu Phoenix.
Auch in Russland begannen sich die Machtverhältnisse zu verschieben: Nachdem zunächst keiner der Rosta-Aktionäre mehr als 18 Prozent der Anteile hielt, kaufte Panikashvili still und heimlich die Anteile von drei der vier ehemaligen Rossib-Eigentümer auf. Zwar konnte Tamro noch das Paket von Oleg Konev übernehmen, der bis dahin an der Spitze des Unternehmens stand und heute Partner beim Finanzinvestor Da Vinci Capital ist. Doch Panikashvili hatte die Mehrheit – und ließ als neuer Firmenchef seine Partner aus Finnland beziehungsweise Deutschland auflaufen.
Schon im ersten Jahr nach dem Bieterrennen wusste man in Helsinki und Mannheim nicht mehr so richtig, wie das Geschäft in Russland läuft. Rückzahlungen seitens der Industrie verschwanden auf ominösen Konten auf Zypern. „Der Hauptaktionär verweigert der Gruppe jeglichen Einfluss auf das Geschäft und den Zugang zu den üblichen Unternehmensinformationen“, klagte damals der Mutterkonzern. Es gab eine Reihe von juristischen Auseinandersetzungen zwischen den Eigentümern. Da Panikashvili nicht verkaufen wollte, stieg Tamro schließlich aus: 2010 verkaufte der Konzern sein Paket von 42,5 Prozent. Woher der Apotheker das Geld hatte, konnte sich niemand erklären.
Im Nachhinein erwies sich der Rückzug für Phoenix als goldrichtig: Rosta musste 2017 Insolvenz anmelden, das Unternehmen hatte zuvor in den Aufbau einer Apothekenkette investiert und war am Ende mit umgerechnet rund 4 Milliarden Euro verschuldet. Zwei Jahre später wurde auch Panikashvili für bankrott erklärt. Banken wie die Sberbank und NKB sowie Pharmahersteller wie Sandoz/Novartis/Alcon und Ipsen machten Forderungen geltend. Noch immer wird nach Vermögenswerten gesucht.
Kurz vor der Pleite hatten 2016 Gerüchte über eine Fusion mit dem Konkurrenten „36.6“ die Runde gemacht, was zahlreiche Gläubiger veranlasste, ihre Forderungen geltend zu machen. Doch die Apothekenkette, die zwei Jahre zuvor das Groß- und Einzelhandelsaktivitäten des finnischen Tamro-Konkurrenten Oriola-KD übernommen hatte, hatte sich stattdessen für Stefano Pessina entschieden: Der Italiener hatte 2006 die „Apteka-Holding“ für 18 Millionen Britische Pfund zuzüglich Schulden von 10 Millionen Pfund vom Finanzinvestor Carlyle gekauft und ein Jahr später in Alliance Healthcare Russia umbenannt. Mit umgerechnet knapp einer Milliarde Euro Umsatz und 2000 Mitarbeitern war der Großhändler innerhalb von zehn Jahren zur Nummer 5 am russischen Markt aufgestiegen – nun brachte Walgreens Boots Alliance (WBA) die Sparte bei „36.6“ ein. Im Gegenzug gab es einen Anteil von 15 Prozent, der nach mehreren Finanzierungsrunden aktuell auf 4,58 Prozent abgeschmolzen ist.
Auch Gehe/Celesio hatten in Russland kein Glück: Bereits 1993 gründete der Stuttgarter Großhändler gemeinsam mit russischen Partnern den Ableger „Gehe Pharma St. Petersburg“, doch schon drei Jahre später gab man seinen 65-prozentigen Anteil wieder ab. 2008 gab es einen weiteren Anlauf, doch die Gespräche über einen Einstieg beim Marktführer Protek scheiterten an den Preisvorstellungen der Eigentümer – zum Glück, wie der damalige CEO Dr. Fritz Oesterle schon kurz darauf zu Protokoll geben musste.
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