Telemedizin

Video-Sprechstunde wirkt bei „Knackis“

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Berlin -

Im Frühjahr startete in Baden-Württemberg ein Modellprojekt der ganz besonderen Art zur Telemedizin: Gefängnisinsassen werden per Videosprechstunde von Ärzten behandelt. Beteiligt sind sechs Justizvollzugsanstalten. Technik und Ärzte liefert das Hamburger Unternehmen Videoclinic. Die ersten Erfahrungen sind positiv. Landesjustizminister Guido Wolf (CDU): „Die Telemedizin hat ein großes Potenzial, unsere Bediensteten im Justizvollzugsdienst zu entlasten und die medizinische Versorgung der Gefangenen zu verbessern.“

Die erste Bilanz nach wenigen Monaten bestätigt die Erwartungen: Telemedizinisch per Videosprechestunde behandelt wurden rund 100 Gefangene, „durchschnittlich 3,25 Patienten pro Tag“, wie das Justizministerium ausgerechnet hat. Nur 7,7 Prozent davon, also acht Insassen, mussten nach der Telesprechstunde persönlich einen Arzt aufsuchen. Die meisten gesundheitlichen Probleme ließen sich also via Telemedizin abklären und behandeln. Ob sich auch die Hoffnung bestätigt, dass jetzt weniger Gefangene den Arztbesuch zur Flucht nutzen und damit die Ausbrecherquote in Baden-Württemberg sinkt, lässt sich statistisch noch nicht erheben.

Wolf kommentierte das Telemedizinprojekt so: „Die medizinische Versorgung gestaltet sich insbesondere in den Abend- und Nachtstunden sowie an Wochenenden und Feiertagen nicht einfach.“ Aber auch die Wege zu Ärzten außerhalb der Justizvollzugsanstalten seien mit einem enormen Personal- und Kostenaufwand verbunden und begründeten zugleich ein Sicherheitsrisiko. „Schon nach den Erfahrungen der ersten Wochen mit einer Vielzahl erfolgreich abgeschlossener telemedizinischer Behandlungen lässt sich sagen, dass wir hier auf einem sehr guten Weg sind.“

Der Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Dr. Ulrich Clever, erklärte: „Im Sommer 2016 haben wir – bundesweit als Vorreiter – unsere Berufsordnung geändert, um die ausschließliche ärztliche Fernbehandlung im Rahmen von Modellprojekten zu ermöglichen.“ Als Genehmigungsinstanz lege die Kammer dabei größten Wert auf Patienten- und Datensicherheit sowie Qualität. Ärzte würden für die besondere Behandlungssituation und Zielgruppe speziell geschult. Zudem seien wissenschaftliche Begleitevaluationen zwingend, betont Clever.

Die Telemedizin lässt sich laut Ministerium im Justizvollzug des Landes bereits flächendeckend umgesetzten und mit bewährten Videodolmetschern kombinieren. Wolf: „Die Chancen der Digitalisierung sind gewaltig und es liegt an uns, diese zu nutzen. Wir haben im Land mit diesem bundesweit einzigartigen Modellprojekt unsere Offenheit für technische Innovationen mit unserem Sinn für pragmatische Lösungen verknüpft. Dafür gilt auch der Landesärztekammer mein herzlicher Dank.“

Das Pilotprojekt ist seit Juni dieses Jahres schrittweise bei sechs Justizvollzugsanstalten des Landes an den Start gegangen. Videoclinic gewährleistet die Zuschaltung eines Allgemeinarztes und eines Psychiaters innerhalb weniger Minuten zu jeder Tages- und Nachtzeit an jedem Wochentag. Die Behandlung der Gefangenen vor Ort erfolgt in den Krankenabteilungen der Anstalten.

Dort werden die Gefangenen von Mitarbeitern des Krankenpflegedienstes unmittelbar betreut. Der Krankenpflegedienst kann bei Bedarf als verlängerter Arm des Telemediziners bei der Diagnose und der Behandlung tätig werden. Die Kosten des sechsmonatigen Modellprojekts und die zwingende wissenschaftliche Begleitstudie belaufen sich auf 470.000 Euro.

Damit will das Justizministerium auf die besonderen Herausforderungen im Strafvollzug reagieren. Denn neben einem generellen Anstieg der Gefangenenzahlen stellt die Zunahme der Zahl psychisch auffälliger Gefangener den Justizvollzug vor große Herausforderungen bei der medizinischen Versorgung. Den Regelvollzugsanstalten stehen insbesondere Fachärzte für Psychiatrie nicht in gewünschtem Umfang zur Verfügung.

Für das Modellprojekt wurden sechs Anwendungsfelder identifiziert: Psychisch auffällige Gefangene sollen per Videosprechstunde ebenso behandelt werden wie Gefangene mit somatischen Beratungsanlässen. Nach Operationen können Gefangene ebenfalls betreut, diagnostische Befunde ausgewertet und eine schnelle Ersteinschätzung bei unklaren Beschwerdebildern vorgenommen werden. Außerdem sollen interdisziplinäre Konsultationen stattfinden.

Der Modellversuch ist auf sechs Monate angelegt und wird in den Gefängnissen in Stuttgart, Rottenburg, Schwäbisch Gmünd, Adelsheim und Hohenasperg durchgeführt. Das Modellprojekt deckt nach Angaben des Ministeriums nahezu das gesamte vollzugliche Spektrum – junge Gefangene, Frauen, Männer, Untersuchungshaft, Strafhaft, große und kleine Anstalten – ab.

Videoclinic-Geschäftsführer Dr. Peter Merschitz hat sich in der Szene bereits einen Namen mit seiner Firma „Videodolmetschen.com“ gemacht. Mit über 500 Dolmetschern arbeitet er mit Arbeitsämtern und anderen öffentlichen Verwaltungen sowie 100 Kliniken zusammen. Pro Monat wickelt die Firma 15.000 Aufträge ab. Per Videoschaltung dolmetschen die Übersetzer in verschiedenen wichtigen Lebensangelegenheiten.

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