Wenn Hersteller zur Apotheke werden Patrick Hollstein, 08.03.2016 10:21 Uhr
Gewisse Grundsätze sind unantastbar: Arzneimittel werden ausschließlich in Apotheken abgegeben und kosten überall dasselbe, so zumindest die gut begründete Fundamentalposition der ABDA. Doch bei Hochpreisen wie Sovaldi & Co. bekommen viele Apotheker zunehmend ein Finanzierungsproblem. Immer wieder gibt es Ideen, das System von Grund auf neu zu denken. Begehrlichkeiten gibt es bei vielen Playern; vor allem die Hersteller hätten mehr Spielraum als gemeinhin angenommen wird.
Weitgehend unbemerkt von der Fachöffentlichkeit schloss die US-Apothekenkette Walgreens kurz vor Weihnachten eine Vereinbarung mit dem Pharmakonzern Valeant, die den Markt nachhaltig verändern könnte: In den demnächst rund 12.000 Filialen werden die Produkte von den Walgreens-Mitarbeitern im Namen des Herstellers abgegeben. Die Kette ist bei diesem Direktgeschäft reiner Dienstleister und erhält eine Aufwandspauschale. Das Modell ist keine Eintagsfliege, sondern mit einer Laufzeit von 20 Jahren langfristig angelegt. Auch unabhängige Apotheken sollen sich dem Vertrag anschließen können.
Konzernchef Stefano Pessina hat offen erklärt, die Zukunft von Gesundheitsversorgung, Apotheke und Einzelhandel weltweit neu definieren zu wollen. Während seine Konkurrenten schon aus beruflichem Selbstverständnis heraus gewisse Grenzen nicht überschreiten, kennt der Italiener keine Berührungsängste: In Großbritannien hat sein Vertriebsmodell mit Pfizer dafür gesorgt, dass die vollsortierten Pharmagroßhändler zu Auftragslogistikern mutiert sind. „Direct to patient“ soll in den USA nun die logische Erweiterung von „Direct to pharmacy“ werden.
Zwar folgt der US-Markt anderen Regeln als der deutsche. Doch auch hierzulande wäre ein solches Modell möglich – in seinen Grundsätzen höchstrichterlich sogar schon doppelt abgesegnet. Im Januar 2012 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass es für die Frage der Arzneimittelsicherheit unerheblich sei, auf wessen Rechnung die Arzneimittel vertrieben würden. Im Februar 2015 erklärte auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) das Modell für zulässig.
Apotheken dürfen demnach als „pharmazeutische Abgabestelle“ für Dritte fungieren. Auch wenn es derzeit über den normalen Apothekenbedarf hinausgehe, Arzneimittel auf fremde Rechnung abzugeben: Interessenkonflikte konnten die Leipziger Richter nicht erkennen. Die Apotheken tragen in diesem Konstrukt „öffentlich-rechtlich die Verantwortung“ und müssen im Rahmen des Dienstleistungsvertrages „auch zivilrechtlich für eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung einstehen“. Sie haften also vollständig für die Abgabe.
Einziger Haken: Weder die Apotheken noch die Kunden dürfen einen finanziellen Vorteil erhalten. Damit war das Modell, das im konkreten Fall verhandelt wurde, wirtschaftlich tot: Eine Apotheke aus Freilassing hatte sich zur Pick-up-Stelle einer befreundeten Apotheke aus Ungarn gemacht, um ihren Kunden Rx-Boni gewähren zu können.
Da Ungarn aber nicht auf der Länderliste des Bundesgesundheitsministeriums steht, spielt es nach der Logik der beiden Urteile überhaupt keine Rolle, wer am Ende aus wirtschaftlicher Sicht Vertragspartner der Kasse ist. Abrechnen darf laut Sozialgesetzbuch (SGB V) jeder, der dem Rahmenvertrag zur Arzneimittelversorgung beigetreten ist. Dafür reicht aber eine Erklärung aus; schon im Zusammenhang mit DocMorris beziehungsweise Montanus hatten die Kassen unter Beweis gestellt, dass ihnen im Grunde egal ist, wer ihnen Rezepte zur Abrechnung schickt.
Für die Hersteller könnte ein solches Konzept durchaus seinen Reiz haben – es geht um Kenntnisse über das Verordnungsverhalten der Ärzte und die Kontrolle der Warenströme. Um Exportgeschäfte zu verhindern, werden schon heute bestimmte teure Präparate kontingentiert und Apotheken ins Direktgeschäft gedrängt. Da auch große Hersteller mitunter nur noch eine Mini-Repräsentanz im deutschen Markt unterhalten, könnte ein Ansatz auf Provisionsbasis zum Geschäftsmodell für Dienstleister werden.
Voraussetzung ist freilich, dass die Apotheken mitspielen. Bislang hat sich kein Hersteller auf dieses unsichere Terrain begeben, das Anti-Korruptionsgesetz dürfte die Sache nicht unbedingt einfacher machen. Andererseits könnten die Firmen bei ihren Kunden gerade im Zusammenhang mit Hochpreisern bald offene Türen einrennen. 3 Prozent plus 8,35 Euro reichen nicht einmal für die Finanzierung, zumal die Banken Überziehungszinsen mitunter quartalsweise abrechnen.
Um die Liquidität zu schonen, hatte der Kölner Apotheker Erik Tenberken bereits vor längerem die Idee eines Konsignationslagers in Spiel gebracht, das die Apotheker in ihren Geschäftsräumen treuhänderisch für die Hersteller betreiben. Erst bei der Abgabe sollen die entsprechenden Medikamente zu Verkaufsware umgewandelt und in Rechnung gestellt werden. Berufspolitische Bedenken hat er nicht, er sieht die Sache pragmatisch: „Das Apothekenhonorar ist am Ende auch nichts anderes als eine Provision für die Abgabe.“
Mehrfach ist er mit seiner Idee schon hausieren gegangen, doch die Industrie ließ sich bislang nicht überzeugen: Allzu viele Fragen seien ungeklärt, etwa die Haftung bei Verfall oder Diebstahl, berichtet Tenberken. Über ein echtes Provisionsmodell, bei dem die Ware überhaupt nicht in sein Eigentum übergeht, hat auch er sich allerdings noch nie Gedanken gemacht.
Bei der ABDA hält man nichts von der Idee: „Dass die Apotheke in Deutschland zum zwischenzeitlichen Eigentümer des zu dispensierenden Arzneimittels wird, ist hierzulande ein wichtiges Prinzip der heil- und freiberuflichen Unabhängigkeit gegenüber den Interessen der Hersteller und Großhändler“, sagt Sprecher Dr. Reiner Kern. Die Tatsache, dass die Gesundheitssysteme in den einzelnen Ländern unterschiedlich reguliert und strukturiert seien, mache es oft schwierig bis unmöglich, Entwicklungen aus anderen Systemen zu übertragen. „Generell darf man sicher feststellen, dass die Arzneimittelversorgung in Deutschland, so wie sie jetzt organisiert ist, gut funktioniert.“ Kern verweist darauf, dass die Hersteller auch heute schon Möglichkeiten haben, zu Vertragspartnern von Krankenkassen zu werden.
Tatsächlich haben die Firmen keine Angst davor, innerhalb der Versorgungskette in die erste Reihe zu treten – und zwar nicht nur bei Rabattverträgen. Um ihre Hochpreiser an den Mann zu bringen, sind die Unternehmen durchaus zu Zugeständnissen bereit: Roche etwa erstattet den Krankenkassen die Kosten für Avastin (Bevacizumab), wenn eine gewisse Menge pro Jahr überschritten wird. In den USA hat Novartis kürzlich mit einer Pay-for-performance-Vereinbarung für Entreso (Sacubitril/Valsartan) für Aufsehen gesorgt: Die Krankenversicherung Signa zahlt umso mehr für das Medikament, je weiter die Zahl der Krankenhauseinweisungen aufgrund von Herzversagen sinkt.
Solche Vereinbarungen gehen weit über das reine Rabattgeschehen hinaus. Beim Rheumavertrag der Techniker Krankenkasse (TK) bekommen die Ärzte Geld dafür, dass sie nur rabattierte Präparate verordnen. Und die Vereinbarung der AOK Baden-Württemberg zur intravitrealen operativen Medikamentenapplikation geht sogar soweit, dass Ärzte die entsprechenden Rezepturen nur bei bestimmten Apotheken beziehen. Ein Selektivvertrag zu Lasten Dritter.
Auch wenn die Apotheken also nicht gleich zu provisionierten Abgabe- und Beratungsdienstleistern werden sollten: Der Druck seitens der Kassen auf der einen und der Industrie auf der anderen Seite wird zunehmen – und auf lange Sicht eine Differenzierung der Apotheken zur Folge haben. Bei diesem Brückenschlag über die Apotheke hinweg geht es um Geld und Knowhow: Gerade bei Hochpreisern haben nicht nur die Kostenträger, sondern auch die Hersteller ein vitales Interesse daran, dass der Patient auf der Apothekenstufe bestmöglich versorgt wird. Nur wenn die pharmazeutische Betreuung optimal ist, kann das Präparat seinen Nutzen in vollem Umfang entfalten, kann die Firma also den besten Preis aufrufen. Die freie Apothekenwahl wäre dann nur noch Nebensache, auf die die Versicherten bei entsprechenden Anreizen auch freiwillig verzichten.
In den USA werden teure, erklärungsbedürftige Spezialpräparate längst nicht mehr in den Apotheken abgegeben, sondern von spezialisierten Versendern quer durchs Land direkt zu den Patienten nach Hause verschickt. Specialty Pharmacy nennt sich dieser Geschäftsbereich, der mit Apotheke nicht mehr viel zu tun hat.
Auch in Europa gibt es Tendenzen in diese Richtung. Pionier in diesem Bereich ist die schweizerische Versandapotheke Mediservice, die sich schon vor 20 Jahren auf komplexe Arzneimittel spezialisiert hat. Im Vordergrund stehen teure Medikamente für seltene Krankheiten, die von Pflegekräften appliziert werden müssen. Mediservice ist kein exklusiver Vertragspartner, bietet aber einen kostenlosen Zusatzdienst an: Schweizweit besuchen 13 bei der Versandapotheke angestellte Pflegekräfte die Patienten zu Hause, erklären die korrekte Anwendung und überwachen die Compliance. Die Medikamente rechnet die Apotheke zu den üblichen Preisen ab, das Zusatzangebot wird von den Herstellern finanziert, die wiederum Vertragspartner der Kassen sind.
Ähnlich funktioniert das Konzept „Evolution Homecare“, das Celesio seit einigen Jahren in Großbritannien anbietet. Chroniker werden im häuslichen Umfeld mit Medikamenten versorgt; im Vordergrund steht die Vermittlung von Dienstleistungen nach der Entlassung der Patienten aus der Klinik. Der Konzern beschäftigt selbst nur wenige Krankenschwestern, sondern arbeitet mit Pflegediensten zusammen.
Auch in Deutschland gibt es spezialisierte Versender – und zwar nicht nur im Hilfsmittelbereich, wo sich Homecare-Anbieter wie GHD, Publicare oder Mediq längst etabliert haben: Bei der MS-Serviceapotheke der BA-Unternehmensgruppe sind die Mitarbeiter auf die Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose spezialisiert. Die Schloss-Apotheke aus Bergisch-Gladbach bietet nach dem Vorbild von Mediservice produktspezifische Therapieunterstützung im häuslichen Umfeld (Outpatient Services, OPS).
Zweck dieser Zusatzangebote ist es letztendlich, die lukrativen Arzneimittel zu liefern und die Patienten mit Qualität statt Boni zu binden. Der Apothekenmitarbeiter im Call Center kennt den Patienten zwar nicht, weiß aber über die Krankheit mehr als der Betroffene selbst, was – so die Argumentation – in den Apotheken vor Ort oft nicht der Fall ist.
Mitunter nehmen die Hersteller die Betreuung aber auch in die eigene Hand. Die Teva-Tochter Cephalon hatte vor einigen Jahren mit einem Lieferservice für das Parkinsonmittel Apo-Go (Apomorphin) die Grenzen des Zulässigen ausgelotet: Bei dem Programm konnten Patienten sich vom Hersteller nicht nur an neue Rezepte erinnern lassen; auf Wunsch wurden die Folgeverordnungen sogar per Kurier beim Arzt abgeholt und an eine bestimmte Apotheke weitergeleitet. Das Oberlandesgericht München (OLG) sah in dem Angebot keine Umgehung der Apothekenpflicht – sondern eine Spielart des Versandhandels mit Arzneimitteln.
Heute gibt es das Modell nicht mehr. Das Interesse daran, aktiv an Versorgungsprogrammen mitzuwirken, hat man in Ulm aber nicht verloren. Im Auftrag von Teva betreut der Berliner Dienstleister „+49 med“ Patienten, die Medikamente des Herstellers einnehmen. 18.000 von 20.000 Anwendern des MS-Mittels Copaxone (Glatirameracetat) sollen eingeschrieben sein. Ein größeres Programm gibt es in Deutschland nicht.
Auch andere Hersteller sehen sich längst am Krankenbett. Der Dienstleister Vitartis etwa betreut für Bayer MS-Patienten, die mit Betaferon (Interferon beta) behandelt werden. Für Pfizer ist das Unternehmen aus Göttingen im Zusammenhang mit Enbrel (Etanercept) tätig. Ein weiterer Anbieter ist Healthcare at home; der britische Dienstleister ist in mehrere Ländern Europas aktiv.
Die Vorbehalte seitens der Patienten, von Mitarbeitern der Hersteller angerufen zu werden, sind offenbar deutlich geringer als allgemein angenommen. Dass sich solche Modelle noch nicht flächendeckend durchgesetzt haben, hängt vor allem mit der fehlenden Vergütung zusammen und damit, dass im deutschen Gesundheitswesen fast immer auf Sicht gefahren wird.
„Pfadabhängigkeit“ lautet der volkswirtschaftliche Fachbegriff für das Phänomen, das schon so manchen ambitionierten Interessenten das Handtuch werfen lassen hat. Der US-Konzern Medco etwa zog sich vor einigen Jahren entnervt zurück, nachdem das Joint Venture mit Celesio schon in den Anfängen stecken geblieben war. Die Bertelsmann-Tochter Arvato übernahm die wenigen Kunden.
In der Regelversorgung werden es zusätzliche Leistungen, die von der Arzneimittelpreisverordnung nicht gedeckt sind und zur Bevorzugung einer bestimmten Apotheke führen, auf absehbare Zeit weiter schwer haben. Die Hoffnung der Befürworter ruht nun auf den besonderen Versorgungsformen, die zuletzt mit dem GKV-Versorgungsgesetz noch einmal gestärkt wurden. Aktuell schielen viele Interessenten auf die 300 Millionen Euro, die im Innovationsfonds für die Förderung innovativer sektorenübergreifender Versorgungsprojekte im Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapiesicherheit bereitgestellt werden.
Apotheker und Ärzte werden sich in dieser neuen Welt daran gewöhnen müssen, dass nicht mehr sie selbst im Gegen- und Zusammenspiel mit den Kassen, sondern Managementgesellschaften die Versorgung steuern werden. Der Einstieg von Finanzinvestoren bei Retaxfirmen wie Inter-Forum oder Syntela zeigt, dass der Zugang zur Welt der Verträge und Abrechnung schon heute bares Geld wert ist.
Noch scheuen sich die Krankenkassen, ihre Versicherten aus der Hand zu geben. Gerade große Anbieter haben eigene Konzepte aufgelegt, einige binden die Apotheken vor Ort mit ein. Über kurz oder lang werden die Berührungsängste aber verschwinden und die Apotheken, wenn sie nicht aufpassen, nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen: „Wir brauchen pharmazeutische Betreuung, aber die muss doch nicht in der Apotheke stattfinden“, sagt ein AOK-Chef, der namentlich nicht genannt werden will. Was den sozialen Aspekt angehe, seien die Kunden bei Wohlfahrtseinrichtungen besser aufgehoben. „Ärzte und Apotheker sind dafür viel zu teuer.“
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