Kommentar

Versagen geboostert

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Berlin -

Dieser Corona-Winter schmerzt viel mehr als der letzte – weil wir diesmal eine Wahl gehabt hätten. Diesmal ist viel Leid  selbstverschuldet, auf individueller Ebene fußend auf einem verdrehten Freiheitsbegriff egoistischer Verantwortungslosigkeit, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene befeuert durch absolutes Politikversagen. Ein Kommentar von Alexander Müller.

Es schmerzt, dass die Bundesregierung Start und Umsetzung der Booster-Kampagne gleichermaßen in den Sand gesetzt hat. Expert:innen aus Ländern, die uns in der Pandemie zeitlich voraus sind, schütteln entgeistert den Kopf über die deutsche Politik, die vor dem Unausweichlichen die Augen verschlossen hat. Seit langem war bekannt, dass im Herbst und Winter Millionen Auffrischungsimpfungen anstehen würden, und dass medizinisch eine Reihenfolge angebracht wäre. Der Immunschutz lässt nach bisherigen Erkenntnissen bei älteren und vielen vorerkrankten Menschen schneller nach – und genau diese Gruppe wurde zu Jahresbeginn priorisiert zuerst geimpft.

Es schmerzt, dass ausgerechnet jetzt der Impfstoff fehlt und es schmerzt fast noch mehr, dass dies von den politisch Verantwortlichen so hartnäckig geleugnet wird. Natürlich ist es absurd, dass Bürger:innen heute einen „Lieblings-Impfstoff“ haben – als ob irgendjemand zwei Tetanus-Impfstoffe namentlich benennen könnte. Aber es ist Teil des kommunikativen Totalversagens von Noch-Minister Jens Spahn (CDU), dass diese Debatte nicht nur nicht eingefangen, sondern durch unbedachte Äußerungen über vor dem Verfall stehenden Impfstoff befeuert wurde.

Trotzdem wäre das zu retten gewesen, und zwar von den Ärztinnen und Ärzten. Denn viele Patient:innen mögen zwar einen Vakzin-Favoriten haben, aber diese modische Haltung ist selten medizinisch unterfüttert und dürfte dem Ausspielen der sonst so gern genutzten „ärztlichen Autorität“ kaum standhalten. Am Ende wäre es den allermeisten Booster-Willigen sicher lieber gewesen, Moderna zu bekommen, als weggeschickt zu werden. Doch die Praxen scheuen diese Konfrontation, bestellen trotz angekündigter Kürzung massenhaft Comirnaty-Dosen. Automatische oder optionale Nachlieferungen von Moderna gibt es dann leider nicht.

Lieber geben die Praxen diesen Druck an die Apotheken weiter, verlangen von diesen teilweise, bei der Bestellung zu tricksen und für fiktive Ärzte zusätzliche Dosen zu bestellen. Als ob dadurch eine Impfung mehr im Oberarm landen würde. Und während die Menschen in der Kälte vor den Praxen und (wenigen nicht leichtsinnig geschlossenen) Impfzentren mitunter stundenlang Schlange stehen, zetern und keifen die Mediziner, dass impfende Apotheken ein standespolitischer Frontalangriff wären. So tief sinkt mancher Halbgott in Weiß, dass er dem benachbarten Pharmazeuten offen droht, die Rezepte künftig nach Holland zu schicken.

Und in der Schlange vor den Praxen stehen die Jüngeren und Gesünderen, die aus individueller Perspektive absolut richtig handeln und den Aufrufen aus Politik und Gesellschaft folgen, sich boostern zu lassen. Doch damit verstopfen sie ein momentan schwer überlastetes System, in dem ein Mangel an Impfstoffen und -möglichkeiten auf eine sprunghaft gestiegene Nachfrage trifft. Die Alten und Schwachen, die jetzt geboostert werden müssten, liegen in viel zu großer Anzahl schon auf der Intensivstation – oder fliegen auf die Intensivstation. Denn regional sind die Kapazitäten bereits ausgeschöpft. Der einstige „Corona-Macher“ und Maßnahmen-Hardliner Markus Söder (CSU) hat nicht genug Betten für seine Bayern. Das ist die traurige Wahrheit.

Statt diese gefährliche Mangelsituation zu antizipieren, haben Bund und Länder viel zu lange nichts unternommen, nur um dann wieder in Aktionismus zu verfallen. Statt den Sommer klug zu nutzen, ignorierte die Politik das Thema im Wahlkampffieber. Es schmerzt, dass das jetzt so viele Menschenleben kostet.

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