Verhandlungslösung: Jurist befürchtet Chaos Patrick Hollstein, 10.09.2024 09:41 Uhr
Seit zwei Jahrzehnten wurde das Apothekenhonorar nicht substanziell angehoben; viele Apothekerinnen und Apotheker hoffen daher, dass sich durch die im Apothekenreformgesetz (ApoRG) geplanten Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband endlich etwas rausholen lässt. Doch der Frankfurter Juraprofessor Dr. Hilko Meyer ist skeptisch: Er warnt vor einem „antagonistischen Verhandlungsprozess“ und vor dramatischen finanziellen und ordnungspolitischen Folgen. Aus seiner Sicht stiehlt sich der Gesetzgeber aus seiner Verantwortung für die flächendeckende Versorgung.
Meyer ist einer der versiertesten Experten im Apotheken- und Arzneimittelpreisrecht. Was die Verhandlungslösung angeht, hat er eine andere Meinung als die Abda, die er selbst jahrelang beraten hat. Schon Anfang des Jahres formulierte er seine Bedenken in einem juristischen Fachbeitrag in „Arzneimittel & Recht“. Und obwohl das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mittlerweile nachgebessert hat, hat sich an seinen tiefgreifenden Bedenken nichts geändert.
So glaubt er nicht, dass die Apotheken im Ringen mit den Kassen eine allzu gute Position hätten: Vielmehr läge die gesamte Verhandlungsmacht beim GKV-Spitzenverband, der als „Hüter der Beitragsgelder und des Wirtschaftlichkeitsgebots“ einen gesetzlichen Auftrag vertrete, der dem des Deutschen Apothekerverbands (DAV) als der „für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildete maßgebliche Spitzenorganisation der Apotheker“ diametral entgegenstehe.
Da eine annehmbare Einigung mit dem übermächtigen Nachfragemonopolisten so gut wie ausgeschlossen sei, müsse am Ende wohl wieder eine Schiedsstelle entscheiden, so Meyer. Und hier komme es eben nicht nur zu einer sachlichen Abwägung von Argumenten, sondern allzu oft zu einem von außen schematisch festgelegten „Kompromiss zwischen strategisch aufgestellten Maximalforderungen“.
Wie oft Verhandlungen schon gescheitert seien, zeigt laut Meyer das Beispiel des Kassenabschlags: Dieser sei 2003 bei Umstellung auf den Festzuschlag gesetzlich auf 2 Euro festgelegt worden; dann sei – statt die zugesagte zweijährliche Anpassung des Festzuschlags vom BMG einzufordern – jahrelang vergeblich mit der GKV verhandelt worden, gegen Entscheidungen der Schiedsstelle wurde geklagt. Immer wieder habe der Gesetzgeber eingegriffen, bevor er den Zwangsrabatt schließlich wieder gesetzlich festschrieb. Auch aktuell beim Honorar für die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL) müssen mangels Einigung demnächst wieder Richter entscheiden.
Vergifteter Vorschlag
Für riskant hält Meyer auch die Vorgabe, dass die Parteien im Rahmen der Verhandlungen ein gemeinsames Gutachten in Auftrag geben können: „Damit greift das Ministerium offensichtlich eine Forderung des GKV-Spitzenverbands auf, der sein Bestreben, die Apothekenmarge zu bestimmen, nie aufgegeben hat.“
Er verweist auf das 2hm-Gutachten, das zu dem Ergebnis gekommen war, dass das Apothekenhonorar nicht erhöht, sondern gar um 1,24 Milliarden Euro gesenkt werden könnte. Zugrunde gelegt wurde dabei ein „leistungs- und kostenbasierter Ansatz“, der nur die bloße Abgabe zulasten der Krankenkassen berücksichtigte und die übrigen kostenträchtigen Gemeinwohlverpflichtungen der Apotheken ausklammerte: Da nur knapp 40 Prozent der Packungen auf die GKV entfielen, müsse auch nur ein entsprechender Anteil der Aufwendungen der Apotheken durch die Kassen gedeckt werden. „Die Verhandlungsposition des GKV-Spitzenverbands dürfte damit ebenso vorgezeichnet sein, wie ihre Unvereinbarkeit mit den berechtigten Interessen der öffentlichen Apotheken“, so Meyers Fazit.
Fixum soll Versorgung sichern
Vor allem aber kritisiert Meyer, dass sich der Staat mit der Abgabe des Honorars an die Selbstverwaltung aus seiner Verantwortung für die flächendeckende Versorgung stiehlt – ohne gleichzeitig für einen entsprechenden ordnungspolitischen Ersatz zu sorgen. Denn die staatliche Festsetzung der Apothekenspannen sei in den 1970er-Jahren auch deswegen eingeführt worden, um nach der Abschaffung der Bedarfsplanung infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts einen gleichmäßigen Zugang zu Apotheken zu gewährleisten. „Der Gesetz- und Verordnungsgeber übernahm damit die gesundheitspolitische Verantwortung für die Sicherstellung der wirtschaftlichen Grundlage einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung der Bevölkerung durch wirtschaftlich unabhängige inhabergeführte öffentliche Apotheken.“
Dabei gehe es nicht darum, den wirtschaftlichen Fortbestand jeder einzelnen Apotheke zu sichern, sondern vielmehr um die „institutionelle Sicherstellung eines ordnungsgemäßen, funktionierenden und flächendeckenden Apothekensystems“, so Meyer.
Daher beschränkten sich bei der Festsetzung der Spannen nach § 78 Arzneimittelgesetz (AMG) die „berechtigten Interessen der Verbraucher“, wie Meyer unterstreicht, ausdrücklich nicht nur auf möglichst niedrige Ausgaben. Vielmehr umfassten sie auch ein funktionierendes Apothekensystem. Und die regelmäßige Anpassung sei nicht nur mit Blick auf steigende Kosten vorgesehen worden, sondern auch, weil die Apotheken immer neue Aufgaben übernehmen mussten. Dies habe der Gesetzgeber im Grunde auch immer wieder anerkannt, auch wenn er seiner Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung nicht nachgekommen sei.
Verantwortung im Vakuum
Meyers Kritik ist fundamental: „Der Gesetz- und Verordnungsgeber entlässt sich selbst aus der gesundheits- und wettbewerbspolitischen Verantwortung für die wirtschaftlichen Existenzbedingungen einer sicheren, umfassenden, gleichmäßigen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung der Bevölkerung durch unabhängige inhabergeführte öffentliche Apotheken.“ Mit der geplanten Verhandlungslösung würden die beschriebenen gesetzlichen Steuerungsinstrumente ersatzlos aufgegeben; vielmehr würden die Apothekenspannen zum „Spielball eines antagonistischen Verhandlungsprozesses“ gemacht.
Den Kassen sei dabei noch nicht einmal ein Vorwurf zu machen, denn sie seien nicht für die flächendeckende Versorgung verantwortlich, sondern nur für einen effizienten Umgang mit den ihnen anvertrauten Versichertengeldern. Und auch der DAV habe – anders als die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung – keinen Sicherstellungsauftrag, der es ihm ermögliche, steuernd in die Apothekendichte einzugreifen.
Dass den Verhandlungspartnern laut Entwurf vorgegeben wird, „Anpassungen, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der Versorgungssituation zur Sicherstellung einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung und der Änderungen des Verbraucherpreisindexes und der Grundlohnsumme zu beachten“, ist laut Meyer nicht geeignet, die gesetzliche Verantwortung von Bund und Ländern für die flächendeckende Arzneimittelversorgung zu ersetzen. Das hat man wohl auch im BMG erkannt und sich im jüngsten Entwurf das Recht vorbehalten, gegebenenfalls weitere Datengrundlagen für die Vereinbarungen festzulegen.
Politik ist verantwortlich
Laut Meyer kann die bislang von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat wahrgenommene Verantwortung für das Apothekenhonorar und damit die flächendeckende Versorgung nicht durch eine Verhandlungslösung ersetzt werden. „Der Versorgungsauftrag der Apotheken geht mit gesundheits- und sozialpolitisch begründeten Gemeinwohllasten einher, die über eine wirtschaftliche Existenzsicherung der Apotheken zu gewährleisten ist.“
Und weiter: „Mit der politischen Verantwortung sind gesamtgesellschaftlich folgenreiche Abwägungen und Entscheidungen verbunden, deren Delegation an Preisverhandlungen zwischen deutlich ungleichgewichtigen Marktkontrahenten unverantwortlich wäre.“ Sein Fazit: „Würde die Verhandlungslösung gleichwohl realisiert, so dürfte dies zu erheblichen tektonischen Verwerfungen im gesamten Bereich der flächendeckenden Arzneimittelversorgung der Bevölkerung mit ungewissem Ausgang führen.“
Forderung der Apothekerverbände
So gesehen dürften die Verheißungen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zum Thema mit Vorsicht zu genießen sein: Der hatte kürzlich argumentiert, dass im Falle der vorgesehenen Verhandlungslösung für die Apotheken „aller Voraussicht nach höhere Abgabehonorare erzielt werden können als das, was jetzt bezahlt wird“.
Er setze damit Forderungen der Apothekerverbände um: „Nur die Apotheker waren abgekoppelt. Daher ist das Apothekenhonorar nicht gewachsen. Das ist aber nichts, was ich zu vertreten habe, sondern das ist das, was ich ablöse.“ Mit der Reform kämen Apothekerinnen und Apotheker in die gleiche Lage wie Ärzte, Zahnärzte oder Physiotherapeuten: „Das Honorar steigt mit der Morbidität und mit den Gesamteinnahmen der Krankenkassen. Somit würde das Honorar steigen und dynamisiert.“
Bewusst habe man die 8,35 Euro auch nicht auf einen neuen staatlich regulierten Betrag angehoben, der dann abermals statisch sei. „Die Apotheker müssen genau wie die anderen Gesundheitsberufe auch ihr Honorar verhandeln. Dann steigt es aber auch mit der gleichen Dynamik wie in den anderen Bereichen.“ Dass die Politik eigentlich längst verpflichtet gewesen wäre, das Honorar unter Berücksichtigung aller gesetzlichen Parameter anzupassen, sagte er nicht.