Tödliche Erkrankung: Hat Arzneimittelsicherheit Vorrang? Hanna Meiertöns, 29.06.2023 10:59 Uhr
Ein Versicherter mit einer regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit verlangt von seiner Krankenkasse die Versorgung mit einem Arzneimittel, das für seine Indikation nicht zugelassen ist. Das Sozialgericht und das Landssozialgericht kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, nun muss das Bundessozialgericht (BSG) entscheiden.
Das Arzneimittel mit dem Wirkstoff Ataluren ist in der EU für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen. Die genetisch bedingte Muskelerkrankung geht mit fortschreitendem Muskelschwund einher, die typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödlich ist. Sie beruht auf einer Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens.
Der 2004 geborene Patient leidet an Duchenne-Muskeldystrophie, er ist seit 2015 gehunfähig. Translarna, so der Name des Präparats, ist jedoch nur für gehfähigen Patient:innen zugelassen. Anträge des Herstellers bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im Juni und nochmals im Oktober 2019 führten nicht zur Erweiterung der Zulassung auf nicht mehr gehfähige Patienten. Trotzdem fordert der Mann von seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für das Arzneimittel.
Landessozialgericht gibt Kläger recht
Das Sozialgericht hat die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen. Das Landessozialgericht hingegen hat die Krankenkasse verurteilt, ihren Versicherten mit Translarna zu versorgen: Es bestehe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Dies reiche bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten aus, den Anspruch zu begründen.
Denn „Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht“ können laut § 2 Abs 1 a SGB V „auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“ Nach Absatz 1 Satz 3 hätten die „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.“
Die gutachterliche Ablehnung der Indikationserweiterung durch die EMA entfaltet laut Landessozialgericht keine Sperrwirkung, weil diese nicht auf einer aussagekräftigen Datenlage beruhe und seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung des Arzneimittels erlangt worden seien. Daher wird nun das BSG über den Fall entscheiden.