Selektivverträge

TK will Krankenversicherung liberalisieren Patrick Hollstein, 11.04.2012 15:10 Uhr

Berlin - 

Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung könnte eines der nächsten großen Themen auf der politischen Agenda werden. Auch für die Leistungserbringer stellen sich damit viele Fragen. Ausgerechnet eine der größten Krankenkassen schlägt jetzt die Liberalisierung des Versicherungsmarktes vor: Die Techniker Krankenkasse hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, nach dem die Kassen quasi privatisiert werden sollen. Statt Körperschaften öffentlichen Rechts sollen künftig Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit die Absicherung im Krankheitsfall übernehmen. Dahinter steckt auch der Gedanke, mehr Wettbewerb durch Selektivverträge ins System zu bekommen.

 

Bereits seit Wochen war im gesundheitspolitischen Berlin auf das Gutachten gewartet worden. Im Auftrag der TK haben die Gesundheitsökonomen Professor Dr. Eberhard Wille und Professor Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg sowie der Niederländer Geert Jan Hamilton und der Jurist Professor Dr. Gregor Thüsing ihr 250 Seiten umfassendes Papier vorgelegt. Die Wissenschaftler sollten laut TK klären, welchen Nutzen eine privatrechtliche Organisation der Krankenkassen aus ökonomischer Sicht erzielen kann und welche Handlungsoptionen innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen überhaupt bestehen.

Den Experten zufolge könnte der Gesetzgeber die Kassen auch privatrechtlich organisieren und sie mit den Aufgaben der Sozialversicherung „beleihen“. Dadurch würde die Kompetenz zur selbstständigen Wahrnehmung bestimmter hoheitlicher Aufgaben übertragen; die Versicherungsträger gehörten dann zur mittelbaren Staatsverwaltung, hätten aber Möglichkeiten privater Wirtschaftsunternehmen.

 

 

Genau darum geht es den Gutachtern: Gegenüber den Leistungserbringern sei den Kassen heute ein „sehr begrenztes Spektrum von Gestaltungsmöglichkeiten“ gesetzt, heißt es in der Zusammenfassung. Für erfolgreiche selektive Vertragsaktivitäten der Krankenkassen gebe es zahlreiche, teilweise gravierende Schwachstellen: „Sie beinhalten unter anderem den wettbewerblich inadäquaten Zwang der Krankenkassen zum Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung, die mangelhaften Anreize zu sektorübergreifenden, populationsorientierten Versorgungskonzepten, fehlende Evaluationen und die wettbewerblichen Beschränkungen im Krankenhausbereich.“

Den Gutachtern schwebt außerdem vor, dass die Kassen bestimmte Funktionen ausgliedern, miteinander kooperieren und sich an den Kapitalmärkten Geld besorgen können. Außerdem sollen Zusatzversicherungen jenseits des Grundleistungskatalogs angeboten werden können. „Die Zeit ist reif, um über Veränderungen nachzudenken“, sagte der scheidende TK-Chef Professor Dr. Norbert Klusen gegenüber der Financial Times Deutschland. Das Gutachten solle die Debatte neu beleben und versachlichen.

Das gesamte Papier soll im Juni im Nomos-Verlag veröffentlicht werden.