AMNOG: „Wolf ohne Zähne“ APOTHEKE ADHOC, 07.09.2016 15:27 Uhr
Neue Arzneimittel gegen Krebs und andere schwere Krankheiten bringen trotz hoher Zusatzkosten laut einer Studie oft nur wenig für die Patienten. Von 23 neuen Mitteln des Jahres 2013 seien 13 negativ zu bewerten, heißt in aktuellen Innovationsreport der Techniker Krankenkasse (TK). Gegen verbreitete Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Rückenschmerzen gebe es dagegen so gut wie keine neuen Medikamente, kritisierten die Verfasser des Reports, Professor Dr. Petra Thürmann, Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig sowie Professor Dr. Gerd Glaeske.
„Der Anteil der nicht innovativen Arzneimittel überwiegt“, fasste Glaeske zusammen. Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), betonte, „dass der Großteil neuer Arzneimittel keine Innovation ist“ und dass sich die Hersteller zudem auf den Bereich der Onkologie konzentrierten: Der Anteil onkologischer Präparate war mit 9 von 23 neuen Präparaten (40 Prozent) erneut auffallend hoch, was sich auch bei den Ausgaben bemerkbar macht. 65 Prozent der Kosten für die untersuchten Präparate entfielen 2015 auf diese Medikamente – ein weit überproportionaler Anteil.
Krebsarzneimittel erreichten an den Arzneimittelausgaben inzwischen fünf Milliarden Euro. „Das ist ein sehr lukratives Geschäftsfeld“, so Ludwig. Gegen die hohen Kosten stehe überwiegend eine Lebensverlängerung von „nur wenigen Wochen oder Monaten“. Ludwig forderte eine gesellschaftliche Diskussion über Kosten und Nutzen neuer Arzneimittel. Gerade in der Onkologie zeichneten sich in den nächsten Jahren Kostensteigerungen von heute 70.000 auf 100.000 bis 200.000 Euro je Patient ab: „Die ethische und medizinische Debatte über die exorbitanten Preise in der Krebsmedizin werden wir in der Gesellschaft führen müssen“, so Ludwig.
Der TK-Report bewertet die Arzneimittel mit Ampelfarben. Mit Perjeta (Pertuzumab) erhielt nur eines der untersuchten 23 Medikamente die grüne Bestnote, neun Mittel bewertete der Report mit „gelb“, 13 nur mit „rot“ als nicht empfehlenswert. Überprüft wurden die Existenz vergleichbarer Mittel, der Mehrwert für die Patienten und der Preis. Bei 15 der neuen Mittel stehen den Patienten danach bereits andere Medikamente mit ähnlichem Wirkmechanismus zur Verfügung. In acht Fällen gebe es keine Verbesserungen für die Patienten – oder sogar eine negative Nutzen-Schaden-Bewertung. Sechs Mittel seien teurer als bisher für die gleichen Krankheiten zugelassene Mittel.
Kosteten neue Arzneimittel im Vorjahr noch im Schnitt 670 Euro pro Packung gekostet, so kommt der TK-Innovationsreport jetzt auf einen Wert 1418 Euro. Obwohl die Bewertungen ähnlich ausgefallen seien wie im Vorjahr, gebe es doppelte Ausgaben. „Das ist erschreckend“, sagte TK-Chef Jens Baas. Das als Preisbremse gedachte AMNOG verfehle sein Ziel, so Baas: „Es ist ein Wolf ohne Zähne und setzt viel zu spät an.“
Kritik übte Baas am vorgelegten Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz. „Die nun nach dem Pharmadialog geplanten Veränderungen führen in die falsche Richtung“, so der TK-Chef. „Werden die Vorschläge der Industrie wie geplant umgesetzt, wird sich das sicherlich auf die Zusatzbeiträge der meisten Kassen auswirken." Problematisch sei vor allem, dass gute Grundsätze aufgeweicht werden sollten. Bisher wird ein neues Medikament mit einer bestehenden Therapie verglichen. „Von diesem Prinzip soll nun abgerückt werden“, so Glaeske. „Wir kommen dann wieder an einen Punkt, an dem wir mehr Geld für ein Arzneimittel ausgeben, nur weil es neu ist und nicht weil es besser ist. Dabei hat das AMNOG in seiner jetzigen Form seine gesetzten Ziele noch nicht erreicht.“
Auch die Umsatzschwelle von 250 Millionen Euro reicht der TK nicht. „Kurz gesagt: Für ein neues Medikament bezahlen die Versicherten erst dann einen fairen Preis, wenn sie bereits eine Viertelmilliarde an die Industrie überwiesen haben“, so Baas. „Ein Medikament hat entweder einen Zusatznutzen oder nicht. Eine Schwelle, bis zu der die Beitragszahler unnötigerweise zur Kasse gebeten werden, lässt sich fachlich nicht begründen.“ Stattdessen müsse der verhandelte Preis bereits rückwirkend ab dem Tag der Markteinführung gelten. Dies fordert auch die SPD.
Trotz der schlechten Noten haben die Pharmahersteller laut der Untersuchung große Erfolge, die Mittel an die Patienten zu bringen. So bringt der von der TK negativ bewertete MS-Wirkstoff Teriflunomid Bruttoumsätze von bis zu 1,3 Millionen Euro pro Monat, das ebenso schlecht abschneidende Mittel Enzalutamid bei Prostatakrebs bis zu 900.000 Euro pro Monat.
Auffällig ist zudem, dass neue Arzneimittel sehr unterschiedlich verordnet werden. Medikamente, die mit einer roten Nutzenampel bewertet wurden, sind in den neuen Bundesländern – außer Mecklenburg-Vorpommern – und Hamburg deutlich häufiger verschrieben worden. „Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass es notwendig ist, Ärzten flächendeckend eine praxisnah aufbereitete Zusammenfassung der Bewertungsergebnisse des G-BA zur Verfügung zu stellen“, so Thürmann, Direktorin des Philipp-Klee-Instituts für klinische Pharmakologie am Helios Klinikum Wuppertal.
Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) wirft den Studienautoren unzulässige Pauschalisierung vor. „Welchen Wert ein Medikament in unterschiedlichen Behandlungssituationen hat, lässt sich nicht mit einem simplen Ampelschema vermitteln“, sagte Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. „Rot, Grün und Gelb gilt nämlich in der Therapie – anders als im Straßenverkehr – nicht für jeden Patienten in gleicher Weise.“ Auch der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) hält das Ampelsystem für „völlig ungeeignet“.