Therapieallergene: Praxen droht Regress-Flut Patrick Hollstein, 28.11.2023 14:57 Uhr
Im Streit um die Verordnung von Therapieallergenen ohne Zulassung hat das Sozialgericht Hannover (SG) den Weg frei gemacht für massenhafte Regresse der Krankenkassen. Laut Urteil dürfen Ärztinnen und Ärzte keine Präparate ohne Zulassung verordnen – auch wenn diese eigentlich verkehrsfähig sind und die Verordnung von verschiedenen Stellen erlaubt wurde.
Laut § 3 Therapieallergene-Verordnung (TAV) dürfen entsprechende Präparate allerdings ohne Zulassung in den Verkehr gebracht werden, sofern sie bei Inkrafttreten der Verordnung im Jahr 2008 hergestellt wurden, dies angezeigt wurde und ein Antrag auf Zulassung gestellt wurde. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht jährlich eine Liste aller Präparate, die unter die Übergangsregelung fallen und damit verkehrsfähig sind.
Dennoch erklärte das Sozialgericht die Verordnung zu Lasten der Kassen jetzt für unrechtmäßig und einen Regress in Höhe von 1400 Euro daher für zulässig. Laut Urteil spielt die Ausnahmeregelung der TAV für die Beurteilung der Verordnungsfähigkeit im keine Rolle: Ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln bestehe im Rahmen der GKV nur für solche Verordnungen, die nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse eine Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bieten.
Davon könne im Arzneimittelbereich ausgegangen werden, wenn es sich um ein Fertigarzneimittel handelt, das nach Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem Arzneimittelgesetz zum Verkehr zugelassen wurde. Das bedeute: „Versicherte können eine Versorgung mit vertragsärztlich verordneten Fertigarzneimitteln, die nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedürfen, daher regelmäßig nur beanspruchen, wenn für das Arzneimittel eine für das jeweilige Indikationsgebiet betreffende Zulassung vorliegt.“
Verkehrs-, aber nicht verordnungsfähig
Das strittige Präparat Pollinex Quattro Gräser/Roggen habe zwar zum Verordnungszeitpunkt über keine Zulassung verfügt, sei aber aufgrund eines laufenden Zulassungsverfahrens verkehrsfähig gewesen, räumt das SG ein. Ob die nach der TAV übergangsweise angeordnete Verkehrsfähigkeit zur Begründung einer Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV ausreichend sei, werde aber in der Literatur unterschiedlich beantwortet.
Ausreichende Feststellungen zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit lagen laut SG zum Verordnungszeitpunkt für Pollinex Quattro Gräser/ Roggen nicht vor. „Dagegen spricht bereits, dass bis heute eine Zulassung für das streitige Präparat nicht erteilt wurde.“ Im Übrigen könne laut Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht einmal aus einer formal bestehenden Zulassung auf die Verordnungsfähigkeit geschlossen werden, wenn die Zulassungsentscheidung „ohne vorherige fundierte Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfolgte“.
Auch der Hinweis auf die in der TAV vorgeschriebene Chargenprüfung könne fehlende Feststellungen zu Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht ersetzten, da es sich um keine Besonderheit der nach der TAV vorübergehend verkehrsfähigen Therapieallergene handele. Es liege auch kein sogenannter Seltenheitsfall vor, bei dem die Verordnung ausnahmsweise in Betracht komme.
Kein Vertrauensschutz durch Dritte
Selbst die Tatsache, dass sämtliche relevanten Akteure in der vertragsärztlichen Selbstverwaltung von der Verordnungsfähigkeit der im Zulassungsverfahren befindlichen Therapieallergene ausgegangen waren, schützt vor der Kürzung nicht: Allgemeine Äußerungen von Dritten seien zur Begründung von Vertrauensschutz nicht geeignet: „Vertrauensschutz setzt voraus, dass die zuständigen Körperschaften oder Gremien explizit die für die von den betroffenen Ärzten praktizierte oder beabsichtigte Verordnungsweise gebilligt und die Ärzte in Kenntnis dieser Auskunft ihre Verordnungsweise fortgesetzt beziehungsweise aufgenommen haben.“
Umgekehrt gilt entsprechend: „Aus dem Umstand, dass die Prüfgremien oder Kostenträger über einen längeren Zeitraum vergleichbare Verordnungen nicht beanstandet haben, erwächst kein Recht und kein Vertrauensschutz, auch in Zukunft entsprechend verordnen zu dürfen.“
Dass eine Gemeinsame Arbeitsgruppe von Kassenärztlicher Vereinigung (KV) und den Verbänden der Kassen in Niedersachsen eine Rezeptinfo herausgegeben hatten, ist laut Urteil ebenfalls irrelevant: Einerseits habe die Kasse im konkreten Fall ihren Hauptsitz in NRW und sei damit nicht Mitglied des an dieser Info beteiligten BKK Landesverbands Mitte. Andererseits gehöre die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht zu den gesetzlich vorgegebenen Aufgaben eines solchen Landesverbands. „In der Gesamtbetrachtung handelt es sich bei der Rezept-Info unter Vertrauensschutzgesichtspunkten um eine unbeachtliche Äußerung eines Dritten.“
Komplett- statt Teil-Regress
Und schließlich sei auch § 106 b Abs. 2a Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht anzuwenden, nach dem Nachforderungen auf die Differenz der Kosten zwischen der wirtschaftlichen und der tatsächlich ärztlich verordneten Leistung zu begrenzen sind. Dies gelte eben gerade nicht für Fälle generell unzulässiger Verordnungen, so das Gericht.
Selbst die Aussage der Kasse, dass man sich „zum Schutz der Ärztinnen und Ärzte, die den Angaben der Pharmafirmen zur Verordnungsfähigkeit der Medikamente vertraut haben“, damit einverstanden erkläre, dass der Prüfausschuss anstatt einer Rückerstattungsverpflichtung eine vorrangige Beratung ausspreche, ließ das Gericht nicht gelten: Der Formulierung sei nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass der ursprüngliche Regressantrag auf einen Antrag auf Festsetzung einer Beratung reduziert werden sollte. „Dazu hätte es mit Blick auf die weitreichenden Folgen für das Prüfverfahren einer eindeutigen Erklärung bedurft.“