Sterilrezepturen

Gericht: Qualitätswettbewerb statt „Gewinnerapotheken“

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Berlin -

Im Verfahren um die Zyto-Rabattverträge der AOK Hessen liegt nun die Urteilsbegründung des Sozialgerichts Marburg vor. Darin wird noch einmal deutlich, dass die Richter dem Apotheker auf ganzer Linie recht geben: Er darf die Rezepte beliefern, die Ärzte dürfen bei ihm bestellen, denn die Patienten dürfen selbst ihre Apotheke wählen. Weil die AOK ihn unrechtmäßig retaxiert hatte, soll der Apotheker aus Marburg laut Urteil sogar den Kassenabschlag zurückbekommen. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig. Das Gericht hat die Sprungrevision zugelassen.

Geklagt hatte ein Apotheker aus Marburg, der in der Vergangenheit die Patienten einer onkologischen Gemeinschaftspraxis versorgte, die im selben Haus liegt. Nachdem im Dezember 2013 die Rabattverträge der AOK in Kraft getreten waren, belieferte er die Mehrheit der Versicherten weiter – obwohl die Aesculap-Apotheke in Marburg das Gebietslos gewonnen hatte. Der Apotheker hatte sich an der Ausschreibung nicht beteiligt.

Als die Rabattverträge starteten, ließ sich der Apotheker von den Patienten eine Erklärung unterschreiben, in der sie bestätigten, ihr Recht auf freie Apothekenwahl wahrzunehmen und sich für seine Apotheke zu entscheiden. Bei der Aesculap-Apotheke, die ihre Sterilrezepturen von dem zum Rhön-Konzern gehörenden Universitätsklinikum Gießen/Marburg bezieht, gingen entsprechend wenig Verordnungen ein: Im Mai und im Juni dieses Jahres waren es gerade einmal acht. Die Apotheke kündigte Anfang August ihren Vertrag mit der AOK.

Die Kasse retaxierte den Marburger Apotheker, der die Präparate vermeintlich ohne Lieferberechtigung abgegeben hatte, um 110.000 Euro für den Monat Dezember. Der zog schließlich vor Gericht und einigte sich im Eilverfahren mit der AOK auf die Rückzahlung. In dem Hauptsacheverfahren ging es um die Zinsen für die einbehaltene Summe und den Kassenabschlag für den April, als die AOK die Rechnung gekürzt hatte.

Die Richter erklärten, dass der Apotheker dem Rahmenvertrag beigetreten und somit lieferberechtigt war. Die Beschränkung auf einzelne Leistungserbringer ist laut Urteil nicht zulässig: Die Richter betonten, die Krankenkassen hätten jedem zugelassenen und geeigneten Leistungserbringer die Möglichkeit zur Beteiligung an der Versorgung der Versicherten einzuräumen.

Eine Auswahlentscheidung sei in diesem Fall nicht zugelassen. Sollte die Arzneimittelversorgung auf einige wenige Apotheken beschränkt werden, bedürfe es dazu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Die AOK sei aber nicht befugt, über Verträge ein „exklusives“ Versorgungssystem einzurichten. Die Exklusivität müsste ausdrücklich im Sozialgesetzbuch (SGB V) geregelt werden, weil dadurch sowohl in Patienten- als auch in Leistungserbringerrechte fundamental eingegriffen werde. Die Rabattverträge hätten „erhebliche Konkurrenznachteile“ zur Folge gehabt und somit eine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit bewirkt.

Die AOK hatte sich in dem Verfahren auf das SGB V berufen. In Paragraf 129 heißt es, „die Versorgung mit in Apotheken hergestellten parenteralen Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten kann von der Krankenkasse durch Verträge mit Apotheken sichergestellt werden“. Die Kasse argumentierte, die Verträge mit einzelnen Apotheken hätten die Regelungen des Rahmenvertrags ersetzt.

Die Richter widersprachen: Die Vereinbarungen würden den Rahmenvertrag lediglich ergänzen und nicht außer Kraft setzen. Ob die Kassen zusätzliche Verträge abschließen, hat aus Sicht der Richter keinen Einfluss auf den Leistungserbringerstatus der Apotheken, für die der Rahmenvertrag gilt. Die AOK kritisierte, dass diese Auslegung die Norm „funktionslos“ mache.

Auch dem widersprachen die Richter. Die Konstellation, dass Vertragsarzt und Apotheke unter einem Dach lägen, gebe es in Hessen nur in Marburg und ein weiteres Mal. Die Richter gehen daher davon aus, dass im Bereich anderer Gebietslose für Ärzte und Versicherte deutlich geringere Anreize bestehen dürften, eine andere als die „Gewinnerapotheke“ zu wählen. Dafür müssten lediglich die Ärzte überzeugt werden, dass ein Wechsel sinnvoll sei, weil nicht nur die Qualität hoch sei, sondern die Apotheke diese Leistungen auch noch wirtschaftlicher anbieten könne als die bisher gewählte Apotheke. Eine andere Möglichkeit, die Verträge zur Geltung zu bringen, besteht aus Sicht der Richter nicht.

Sie kritisierten, die AOK habe „völlig ausgeblendet“, dass das SGB V den Versicherten eine abweichende „Selektiv“-Versorgung nie aufzwinge, sondern diese immer unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit stehe. Das zeigt den Richtern zufolge, dass der Gesetzgeber eben nicht die Möglichkeit für Selektivverträge schaffen wollte, die die Regelversorgung verdrängen.

Die Richter äußerten außerdem „erhebliche Zweifel“ daran, dass mit den Verträgen langfristig überhaupt eine wirtschaftlichere Versorgung der Versicherten stattfinden könne. Sie halten es „für nicht fernliegend“, dass die Selektivverträge zu einer Monopolisierung der Versorgungssituation führen und sich die kurzfristige Erschließung einer Wirtschaftlichkeitsreserve künftig ins Gegenteil umkehre.

Schließlich beschränken die Verträge aus Sicht der Richter auch nicht das Apothekenwahlrecht der Versicherten. Entscheidend sei, dass „ein Fall der Selbstbeschaffung“ vorliege, also der Patient das Arzneimittel bei der von ihm gewählten Apotheke besorge. Ob der Apotheker das Arzneimittel unmittelbar an den Versicherten oder – aufgrund der im Apothekengesetz (ApoG) verankerten Ausnahmen für Zytostatikazubereitungen – aufgrund einer Absprache mit dem Arzt direkt an ihn abgebe, spiele dabei keine Rolle.

Das Argument der AOK, diese Ausnahme im ApoG schließe das Apothekenwahlrecht aus, ließen die Richter nicht gelten. Die Regelung sei „keine Ausnahme von der Apothekenwahlfreiheit der Patienten, sondern eine Ausnahme vom (berufsrechtlichen) Abspracheverbot“. Dass Apotheker die Zubereitungen unmittelbar an den Arzt abgeben dürften, ergebe nicht, dass der normale Versorgungsweg über Patient und Apotheke ausgeschlossen sei.

Aus Sicht der Richter gibt es auch „keine triftigen Gründe“, die Sinnhaftigkeit eines Apothekenwahlrechts in Frage zu stellen. Dass die Patienten ein besonderes und schützenswertes Interesse an der eigenen Wahl ihrer Apotheke haben, zeige sich in dem Fall sehr deutlich: Während die klagende Apotheke die Zubereitungen selbst herstelle, beziehe die Aesculap-Apotheke die Präparate aus einer Krankenhausapotheke.

Das spreche gegen die Annahme, dass die Apotheke besonders erfahren im Umgang mit dieser Art Arzneimittel sei. Die Apotheke, die die Arzneimittel selbst zubereite, verfüge hingegen über ein überlegenes Wissen und könne Fragen sicherlich kompetenter besprechen. „Die Gewährleistung persönlicher Beratung oder wohnortnaher Versorgung waren jedoch keine Zuschlagskriterien bei der Vergabe der 'Selektivverträge'“, so die Richter.

Zudem sei die Regelung, dass Klinikapotheken Vor-Ort-Apotheken mit Zytostatika beliefern dürfen, für Einzelfälle gedacht gewesen. Sie sei nicht für Versorgungsformen gedacht gewesen, bei der die öffentliche Apotheke nur dazu diene, der Klinikapotheke den Zugang zum Arzneimittelmarkt im ambulanten Sektor zu ermöglichen.

Das Fazit der Richter: Die AOK hatte zu Unrecht retaxiert. Weil die Kasse die April-Rechnung entsprechend gekürzt und den Einspruch des Apothekers nicht rechtzeitig zurückgewiesen hatte, hat der Apotheker nun aus Sicht der Richter Anspruch auf den Kassenabschlag des Monats, rund 1700 Euro. Ein Ende hat die Geschichte für den Apotheker aber noch nicht: Ende Juni beanstandete die Kasse einen Betrag in Höhe von 430.000 Euro wegen der Abgabe von Zytostatika im ersten Quartal.

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