Unmittelbar vor dem Deutschen Ärztetag bringen sich die Mediziner mit scharfer Kritik an Plänen der großen Koalition in Stellung. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, machte deutlich, dass die von der Politik geplante Sprechzeiten-Ausdehnung für gesetzlich Versicherte ohne zusätzliche Vergütung nicht gehe. „Wer mehr bestellt, der muss auch mehr zahlen.“ Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verteidigte die Pläne, deutete aber auch finanzielle Verbesserungen an. Ein weiteres Thema beim 121. Ärztetag in Erfurt, der an diesem Dienstag beginnt, soll eine stärkere Freigabe reiner Online-Behandlungen von Patienten sein.
Spahn sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit Blick auf die Sprechzeiten: „Zu oft geht es unfair zu, und Kassenpatienten warten deutlich länger auf einen Termin als Privatversicherte. Das geht nicht.“ Der Arzt, der Patienten zusätzlich nehme, dürfe dafür aber nicht auch noch bestraft werden. „Das muss sich auch in seiner Vergütung niederschlagen.“ Union und SPD wollen die Sprechzeiten für Kassenpatienten von bisher 20 auf 25 Stunde pro Woche ausweiten. Ärztepräsident Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery sagte der „Welt“, man könne immer etwas verbessern. „Aber es wird niemals so sein, dass jeder Patient seinen Wunschtermin bei seinem Wunscharzt bekommt.“
Spahn sprach sich auch angesichts des jahrelangen Gezerres um weitere Funktionen für die elektronische Gesundheitskarte dafür aus, digitale Lösungen mit dem vom Bund geplanten „Bürgerportal“ zu koordinieren. Er wolle nicht, dass man für Steuererklärungen, Pass-Beantragungen und im Gesundheitswesen je eine eigene digitale Identität brauche. „Das müssen wir aufeinander abstimmen.“ Die gesetzlichen Kassen begrüßten, dass Spahn bei der Digitalisierung auf die Tube drücke. Dass nur die Karte als Zugangsschlüssel für das Gesundheitsdatennetz zugelassen ist, sei aber nicht mehr zeitgemäß. „Wir wollen erreichen, dass die Versicherten jederzeit über eine App an ihre Patientendaten kommen“, sagte die Chefin des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer.
Kassenärzte-Chef Gassen kritisierte Spahns Vorstoß, Kassen mit großem Finanzpolster zu Beitragssenkungen zu zwingen. Dies sei wahltaktisch für einen Kanzlerkandidaten in spe verständlich. „Der bessere Weg für die Patienten ist es aber, das Geld dafür zu verwenden, wofür es die Versicherten eingezahlt haben - für die Versorgung.“ Die SPD lehnt Beitragssenkungen ab, auch in der Union gibt es Widerstand.
Die Verbraucherzentralen befürworten eine stärkere Freigabe von Arzt-Behandlungen über das Internet als „sinnvolle Ergänzung“ der Versorgung vor Ort. Davon könnten beide Seiten profitieren: „Patienten sparen sich Wege und Wartezeiten, Ärzte werden entlastet“, sagte der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller. Fernbehandlungen müssten aber freiwillig bleiben. Auch in ländlichen Regionen mit Ärztemangel dürften sie „nur eine zusätzliche Option und kein Ersatz für die ärztliche Versorgung vor Ort sein“.
Über das Thema soll der Ärztetag entscheiden, der bis Freitag in Erfurt tagt. Im Berufsrecht sind „ausschließliche“ Behandlungen über Kommunikationsmedien bisher untersagt. Laut einer Vorlage des Vorstands der Bundesärztekammer soll dies „im Einzelfall“ erlaubt werden, wenn es ärztlich vertretbar und die Sorgfalt gewahrt ist. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte im Bayerischen Rundfunk, Telemedizin könne bei der Versorgung älterer Menschen und auf dem Land helfen. Trotzdem könne nicht auf eine Sprechstunden-Ausweitung für Kassenpatienten verzichtet werden.
Gut die Hälfte der Bürger wünscht sich laut einer Umfrage mehr offen zugängliche Infos für die Suche nach einem Haus- oder Facharzt. „Aktuell fürchtet mehr als jeder Vierte (27 Prozent), sich aus Mangel an Informationen für einen falschen Arzt zu entscheiden“, erklärte die Bertelsmann-Stiftung bei der Vorstellung einer Studie. Der Gesundheitspolitik fehle ein Konzept, um mehr Transparenz in puncto Leistungen oder Ausstattung von Arztpraxen zu schaffen. Dabei seien viele vom Patienten gewünschte Daten durchaus vorhanden. Für die Untersuchung waren im März 1007 Personen ab 14 Jahre befragt worden.
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