Seit einem Jahr diskutiert die Ärzteschaft intensiv über den verstärkten Einsatz der Telemedizin. Es gibt nicht nur Visionen, sondern bereits konkrete Modellprojekte und sogar Abrechnungsziffern in der Honorarordnung (EBM). Längst ist auch bekannt, dass der Ärztetag im Mai eine Änderung der Berufsordnung vornehmen will, um Fernbehandlungen ohne vorherigen Patientenkontakt zu ermöglichen. Jetzt hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ dies als Exklusivthema für sich entdeckt.
Das deutsche Gesundheitswesen stehe vor der digitalen Revolution: Patienten sollen künftig auch ausschließlich über elektronische Kommunikationsmedien wie Skype behandelt werden dürfen, heißt es dort. Dafür wolle die oberste Standesvertretung der Ärzte „laut SPIEGEL-Informationen“ sorgen. Reine Onlinesprechstunden, bei denen sich Arzt und Patient nie begegneten, sollten danach möglich sein.
Die Bundesärztekammer (BÄK) wolle dazu das sogenannte Fernbehandlungsverbot lockern, das sich aus den Berufsordnungen für Ärzte ableite. Künftig solle es dort heißen: „Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über elektronische Kommunikationsmedien ist erlaubt, wenn dies im Einzelfall ärztlich vertretbar ist“, zitiert der Spiegel aus dem Protokoll einer Vorstandssitzung der BÄK. Die Telemedizin solle vor allem das Problem des Ärztemangels in ländlichen Regionen lösen.
Voraussetzung für Fernbehandlungen soll laut Spiegel sein, dass der Patient über die „Besonderheiten“ einer reinen Onlineberatung aufgeklärt werde und der Arzt alle Befunde und Behandlungen sorgfältig dokumentiere. Derzeit seien in Deutschland ganztägige Telemedizin-Bereitschaftsdienste in Landarztpraxen oder in Altenheimen „berufsrechtlich nicht zulässig“, heiße es im BÄK-Papier heißt.
2017 hatte der Ärztetag beschlossen, das geltende Regelwerk zu überprüfen. Über Jahre habe sich die Mehrheit der Ärzteschaft vehement gegen eine Lockerung des Fernbehandlungsverbotes gewehrt und zumindest einen persönlichen Erstkontakt zwischen Medizinern und Patienten eingefordert. Ausnahmen bildeten bisher Modellprojekte, besonders in Baden-Württemberg, wo die ausschließliche Fernbehandlung erprobt wird.
Ein Grund dafür sei die Nähe zur Schweiz, die als Vorreiter in der Telemedizin gilt. Dort bieten Firmen seit dem Jahr 2000 rund um die Uhr ärztliche Beratungen per Telefon oder Video an und stellen auch Rezepte aus.
Was der Spiegel in seinem Online-Vorabericht auf die Printausgabe nicht schreibt, ist dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und die Große Koalition erst Ende 2016 eine Verschärfung der Regeln für Online-Rezepte durchgesetzt haben. Am Heiligabend 2016 trat die 4. Änderung des Arzneimittelgesetzes (AMG) in Kraft. Danach dürfen Apotheken keine Rezepte mehr beliefern, wenn „vor der ärztlichen oder zahnärztlichen Verschreibung offenkundig kein direkter Kontakt zwischen dem Arzt oder Zahnarzt und der Person, für die das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat“.
Damit dürfen von Online-Praxen wie DrED ausgestellte Rezepte nach telefonischer Beratung oder Konsultation nicht mehr bedient werden. In begründeten Ausnahmefällen darf vom Gesetz nur abgewichen werden, wenn die Person dem Arzt aus vorherigen Kontakten hinreichend bekannt ist und es sich lediglich um Wiederholungs- oder Folgerezepte handelt.
In einen Neun-Punkte-Papier hatte zudem im Mai 2017 bereits Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) größere Frei- und Experimentierräume für digitale Technik gefordert. Auch das gerade erst verschärfte Fernbehandlungs- und Fernverschreibungsverbot stellte Zypries wieder in Frage: Unter der Überschrift „Erleichterungen für telemedizinische Anwendungen“ forderte Zypries eine Überprüfung des Fernverschreibungsverbotes. Seit April 2017 sei Telemedizin „in gewissem Umfang Teil der gesetzlichen Regelversorgung“, heißt es in dem Digitalisierungspapier des BMWi.
Durch die Berufsordnung für Ärzte sei jedoch festgelegt, dass ein physischer Erstkontakt die telemedizinischen Leistungen ergänzen muss (Fernbehandlungsverbot). Auf Basis der Erkenntnisse derzeit laufender Modellprojekte solle das Gespräch mit der Bundesärztekammer zur Anpassung des Fernbehandlungsverbots in der Musterberufsordnung gesucht werden. „Zudem soll eine bundesweite Anpassung des Fernverschreibungsverbots geprüft werden“, forderte das Wirtschaftsministerium.
Zuletzt hatte auch die DAK auf mehr Tempo bei der Telemedizin gedrängt: „Das Fernbehandlungsverbot muss grundlegend modifiziert werden, um mehr Spielräume für Ärzte und Patienten durch digitale Lösungen zu schaffen“, forderte Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Aus Sicht der DAK drängt die Zeit: „Andere Länder Europas sind im Bereich E-Health bereits viel weiter als wir. Wenn wir nicht handeln, droht Deutschland den Anschluss zu verlieren“, so Storm.
In einer DAK-Befragung von 1147 Medizinern nannten rund 80 Prozent Videosprechstunden und Online-Coachings als nützliche Ansätze. Vor allem junge Ärzte sind digitalen Lösungen gegenüber offen. Die Teilnehmer sind der Meinung, dass digitale Angebote konkrete Vorteile für die Behandlung haben. Jedoch sei ein ortsunabhängiger Austausch zwischen Arzt und Patient per Videokonferenz derzeit nur eingeschränkt möglich: Das geltende Fernbehandlungsverbot sieht vor, dass ein Arzt einen Patienten persönlich untersucht haben muss, bevor er Telemedizin einsetzen darf.
Laut DAK hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) bereits angekündigt, das Gesetz auf den Prüfstand zu stellen. Der DAK-Digitalisierungsreport 2018 zeigt, dass dies auch die Ärzte für notwendig halten, um Versorgungsengpässe in ländlichen Regionen mit geringer Arztdichte aufzufangen. Viele der Mediziner halten Zukunftsszenarien für denkbar und sinnvoll, in denen Online-Coachings therapiebegleitend verordnet werden können. Ein überwiegender Teil der Teilnehmer sieht in digitalen Lösungen auch Vorteile, die über den Patientennutzen hinausgehen.
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