Kurz vor der Wahl zum CDU-Vorsitz gerät Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Bedrängnis. Die SPD bläst zum „Frontalangriff auf Spahn“, schreibt „Bild“. Der Streit um Versäumnisse bei der Bestellung von Impfstoff wird öffentlich ausgetragen.
Im Corona-Kabinett legte Vizekanzler und SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz einen vierseitigen Fragenkatalog mit der Bitte um zeitnahe Antwort vor. „Scholz handelte ganz offiziell im Namen der SPD-regierten Bundesländer“, schreibt „Bild“. „Ein einmaliger Vorgang! Und ganz nebenbei eröffnete Scholz den Wahlkampf!“ Der Fragenkatalog sei wie ein Untersuchungsausschuss, wird im Bericht ein führender Unions-Politiker zitiert.
Warum die EU so wenig Impfstoff bestellt und Angebote zur Nachbestellung ausgeschlagen habe? Warum nicht frühzeitig auf Brüssel eingewirkt wurde? Warum die von der EU nicht gekauften Dosen nicht von Deutschland bestellt wurden? Und warum die vereinbarten Mengen der bilateralen Vereinbarungen mit Biontech und Moderna nicht höher sind?
Spahn forderte vom Koalitionspartner gemeinsames Agieren in der Corona-Krise. „In dieser echt schweren Phase der Pandemie, denke ich, erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht Geschlossenheit und Entschlossenheit ihrer Regierung“, sagte er am Dienstag im ARD-Morgenmagazin. „Das funktioniert in so einer Phase nicht gut: gleichzeitig Regierung und Opposition sein zu wollen. Irgendwie hat es auch seit 20 Jahren für die SPD nicht gut funktioniert.“ Und mit einem Zusatz warf Spahn der SPD indirekt vor, bereits wahltaktisch zu agieren: „Ich glaube nicht, dass das jetzt im Wahljahr besser läuft.“
SPD-Chefin Saskia Esken hielt dagegen: Es seien in den letzten Tagen ernsthafte Fragen in Bezug aufs Impfen und auf die Beschaffung der Impfstoffe aufgekommen, sagte Esken im RBB-Inforadio. Man sei zwar der festen Überzeugung, dass eine Beteiligung an der europäischen Beschaffungsstrategie richtig war, die Fragen in Bezug auf die Beschaffung und auch die Priorisierung, müssten nun aber beantwortet werden. „Es ist schon in der Umsetzung jeweils der Minister zuständig, [...] in dem Fall Herr Spahn muss jetzt Fragen beantworten.“
Die Kritik an der Impfstoffbeschaffung wies er im „Heute Journal“ des ZDF zurück. „Zuerst einmal ist es weiterhin aus meiner Sicht richtig, diesen europäischen Weg gegangen zu sein und zu gehen“, sagte er. Man habe von Anfang an auf mehrere Hersteller gesetzt, da nicht klar gewesen sei, wer als Erstes ans Ziel komme. „Dass wir jetzt am Anfang so wenig haben, dass wir priorisieren müssen, hat nichts zu tun mit der Bestellmenge, also wie viel wir bestellt haben, sondern das hat etwas damit zu tun, dass jetzt am Anfang die Produktionskapazität knapp ist.“
Weiter bekräftigte Spahn: „Das Ziel ist tatsächlich, dass wir bis zum Sommer jedem ein Impfangebot in Deutschland machen können.“ Das hänge aber davon ab, dass weitere Zulassungen von Impfstoffen erfolgen, räumte er ein. Gleichzeitig arbeite man daran, dass die Produktion bei Biontech etwa durch ein neues Werk in Marburg hochgefahren werden könne.
Dann nannte er ein neues Zwischenziel: „Wenn wir es schaffen – und das ist das Ziel mit den Ländern im Januar – alle Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner zu impfen, wenn wir es schaffen in der Folge alle über 75-, alle über 80-Jährigen zu impfen, dann nehmen wir dieser Pandemie schon einen großen Teil ihres Schreckens.“ Auf die Frage, warum die EU nicht wie andere Ländere einfach die komplette Menge bei jedem Hersteller bestellt habe, ging er nicht weiter ein.
Laut SPD-Gesundheitsexperte Professor Dr. Karl Lauterbach wäre dies der richtige Weg gewesen und hätte nur einen höheren einstelligen Milliardenbetrag gekostet. Europa habe aber für Vorverträge nur zwei Milliarden Euro zur Verfügung gehabt, sagte er bei „Hart aber fair“. „Das war viel zu wenig. Trump hat zur gleichen Zeit zwölf Milliarden Dollar eingesetzt.“ Außerdem habe Frankreich darauf geachtet, dass nicht mehr deutscher als französischer Impfstoff gekauft werde. Seiner Meinung nach haben „fachfremde Überlegungen“ eine Rolle gespielt.
Bei „Hart aber fair“ räumte der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese ein, dass er auch enttäuscht sei. „Aus heutiger Sicht wäre es richtig gewesen, anders zu handeln.“ In den Verhandlungen hätten Biontech beziehungsweise Pfizer aber darauf bestanden, dass sie als Hersteller nicht haften. Das habe „ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt“.
Parallel berichtet „Bild“ über ein Schreiben von Spahn und seinen Amtskollegen aus Italien, Frankreich und den Niederlanden an die EU-Kommission. In diesem hätten die Minister im Juni sich quasi für ihre bisherigen Bemühungen entschuldigt, ausreichend Impfstoff für ihre vier Länder zu bestellen, und den Einkauf an Brüssel abgetreten. Darauf, so schreibt „Bild“, habe Kanzlerin Angela Merkel gedrängt.
Spahn hätte seine Zweifel deutlicher machen müssen, schreibt „Bild“. Merkels europäische Geste sei eine „schwere Fehlentscheidung“ gewesen. Und Kommissionpräsidentin Ursual von der Leyen sei politisch verantwortlich für „Bürokratie, Trödelei und Inkompetenz bei der EU“. Fazit von „Bild“: „Merkel und von der Leyen gegen Spahn – das wird die politische Schlacht der kommenden Tage...“
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