Große Teile der Gesundheitsindustrie befürchten, dass der Staat im Kampf gegen die Sars-CoV-2-Pandemie Grundregeln der sozialen Marktwirtschaft aushebeln könnte. Eine breite Allianz aus Unternehmensverbänden wendet sich deshalb mit einem Appell an die Bundesregierung: Sie warnen vor Enteignungen, ungeklärten Haftungsrisiken und Gefahren für ihre Betriebsgeheimnisse. Der Gesetzgeber solle deshalb alle Maßnahmen auf Notwendigkeit, Dauer und Umfang abklopfen – Grundrechte und marktwirtschaftliche Prinzipien wie Wettbewerb, Eigentum und Preisbildung dürften nur so wenig wie nötig eingeschränkt werden.
Der Markt regelt es von allein – oder nicht? Die Bundesregierung scheint da eine Antwort gefunden zu haben und handelt danach: Mit der „Sars-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung“ hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) neben einem Honorar für den Botendienst und einer Einmalzahlung für die Anschaffung von Schutzausrüstung auch eine Reihe von Eingriffen in den Arzneimittelmarkt beschlossen. So kann das Bundesgesundheitsministerium (BMG) nun von Herstellern und Vertreibern von Produkten des medizinischen Bedarfs Auskünfte etwa zu Produktionsmengen, Lagerbeständen und Preisen verlangen.
Außerdem erhält Spahns Haus die Möglichkeit, den Handel mit bestimmten Arzneimitteln, deren Wirk- und Ausgangsstoffen, Medizinprodukten, Labordiagnostika und Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung oder Desinfektionsmitteln einzuschränken. Den Verkauf dieser Produkte kann es untersagen und deren Abgabe an bestimmte Stellen zu festgesetzten Preisen anordnen. Verstöße gegen dieses Verkaufs- und Verpflichtungsverbot können nach dem Infektionsschutzgesetz als Ordnungswidrigkeit bestraft werden.
Das Bündnis der betroffenen Unternehmen, dem unter anderem der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI), der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) und der Biotechnologieverband Bio Deutschland angehören, sieht diese Schritte allerdings „in Teilen sehr kritisch“. Ihre Befürchtung: Durch diese Eingriffe gefährdet der Staat ihr wirtschaftliches Wohlergehen und provoziert Gegenreaktionen, die letztendlich der hiesigen Versorgung schaden.
So führe die Auskunftspflicht über Bestände, Produktionskapazitäten, den Vertrieb und die Preise nicht nur zu einem hohen Erfüllungsaufwand. Vielmehr kritisieren die Unternehmen, dass nicht geregelt wurde, wie die Geheimhaltung dieser Information sichergestellt wird. Es bestehe deshalb die Gefahr, dass Produktionskapazitäten und Preise anderen Marktteilnehmern bekannt werden. Sie verweisen deshalb auf Brüssel: Die EU-Kommission habe in ihrer Mitteilung über einen befristeten Rahmen für die Prüfung kartellrechtlicher Fragen vom 8. April nochmals ausdrücklich klargestellt, dass nach dem EU-Wettbewerbsrecht auch in Krisenzeiten sichergestellt sein muss, dass individualisierte Unternehmensinformationen nicht an Wettbewerber zurückfließen.
Aber nicht nur in dem Punkt wendet sich der Blick der Industrie nach Europa. Die Unternehmen warnen vor der internationalen Wirkung auf Handel und Politik: „Falsche staatliche Preissetzungen, Eingriffe in bestehende Verträge und Verkaufsverbote könnten weltweit die Allokation knapper Produkte zu Lasten Deutschlands verändern.“ Denn andere Staaten könnten auf die Maßnahmen ihrerseits mit Abwehr- oder Gegenreaktionen antworten. Außerdem weise man auf den europäischen Gedanken und mögliche Folgen hin, wenn andere europäische Staaten mit ähnlichen Maßnahmen und Eingriffen nachrücken. „Dies alles könnte die Versorgung in Deutschland und auch ihre in diesem Feld hervorragende Industrie dauerhaft erheblich gefährden.“
Doch die Kritik an Spahns Verordnung bezieht sich nicht nur auf politische Erwägungen, sondern auch ganz konkret auf ihre rechtliche Ausgestaltung: So sei die Frage von Haftungsrisiken nicht ausreichend geklärt. Zwar sei es ein notwendiger Schritt, um die schnellere Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Produkten sicherzustellen, wenn in Krisenzeiten Ausnahmen von arzneimittel- und medizinprodukterechtlichen Vorschriften zugelassen werden. Bei der Gestattung dieser Ausnahmen müsse jedoch zugleich sichergestellt sein, dass die Unternehmen keinem erhöhten Haftungsrisiko unterliegen. „Beschließen staatliche Institutionen, dass erprobte und auf Patientensicherheit bedachte Zulassungs- und Qualitätsverfahren abgekürzt oder ausgelassen werden, erfolgt dies aufgrund einer Risikoabwägung der jeweils zuständigen Behörden. Daher ist es nur folgerichtig, wenn die Konsequenzen dieser Risikoabwägung auch von den Entscheidungsträgern und nicht von den Unternehmen zu tragen sind.“
Deutlichster Kritikpunkt sind jedoch nicht die Haftungsrisiken, sondern die möglichen Verkaufsbeschränkungen. Anordnungen, die den Bezug und die Abgabe von Produkten vorgeben, Vergütungen festlegen und trotz bereits zuvor eingegangener und bestehender Verpflichtungen den Verkauf von Produkten untersagen, kämen „faktisch einer Enteignung gleich und laufen Gefahr, die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen aus dem Blick zu verlieren“. Verfassungsrechtlich dürfe eine Enteignung nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das zugleich Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, erinnern die Unternehmen die Politik. Die Entschädigung müsse dabei unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten bestimmt werden.
Ein Hinweis auf die Zahlung des üblichen Preises bei der Anordnung einer Abgabe an den Bund oder die Länder sei dabei nicht ausreichend. Denn wenn in bereits abgeschlossene Vertragsbeziehungen eingegriffen wird, würden sich die betroffenen Unternehmen ihren Vertragspartnern gegenüber schadenersatz- und gegebenenfalls sogar vertragsstrafenpflichtig machen. „Wenn es um Vertragsbeziehungen innerhalb Deutschlands geht, muss klargestellt werden, dass in diesen Fällen, das betroffene Unternehmen aus diesen Verpflichtungen, insbesondere hinsichtlich möglicher Sanktionen aus Rabattverträgen, freigestellt wird“, fordern die Hersteller.
Bei grenzüberschreitenden Vertragsbeziehungen werde eine solche Freistellung aber nicht möglich sein. BAH, BPI & Co. fordern deshalb, dass der Staat bei der Inanspruchnahme solcher Ansprüche den betroffenen Unternehmen gegenüber ausgleicht – sie also entschädigt. Außerdem müsse er beachten, dass die Herstellungs- und Vertriebsstrukturen komplex und vielfach länderübergreifend sind. Die Anstrengungen, die Arzneimittelversorgung durch staatliche Eingriffe sicherzustellen „sollten daher nicht durch staatliche Eingriffe – insbesondere die Unterbrechung internationaler Liefer- und Produktionsketten - konterkariert werden“. Die Herstellerverbände appellieren deshalb an die Politik: „Wir bitten Sie eindringlich, die zugrunde liegenden Prinzipien unseres Wirtschaftens auch in Krisenzeiten nicht aus dem Blick zu verlieren und stehen Ihnen für Gespräche gerne zur Verfügung.“
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