Spahn und Apotheke: Corona hat alles im Griff Lothar Klein, 29.12.2020 13:48 Uhr
Dass Corona-Pandemie zum Wort des Jahres 2020 wurde, hat wohl niemanden überrascht. Das Virus hat die ganze Gesellschaft und damit auch den Apothekenmarkt vor sich hergetrieben. Am 24. Januar wurde in Deutschland der erste Infizierte gemeldet. Seitdem ging es Schlag auf Schlag. Knapp 30 Gesetze und Verordnungen wurden im Bundesgesundheitsministerium (BMG) zu Papier gebracht – so viele wie noch in keinem Jahr zuvor. Auch Minister Jens Spahn hat eine steile Lernkurve hinter sich – Irrtümer einbezogen. Aber nicht nur Corona wirkte 2020 wie eine Zäsur. Die Pleite des Apothekenrechenzentrums AvP schockte die Apothekerwelt ebenso. Aber die gute Nachricht lautet: Die meisten Apotheken sind besser durch die Krise gekommen als viele andere Wirtschaftsbereiche.
Ab dem 19. Januar hält sich eine Chinesin im Hauptsitz ihrer Firma Webasto im Gautinger Ortsteil Stockdorf auf und nimmt an einem Seminar teil, bei dem auch ein 33-Jähriger aus Landsberg am Lech anwesend ist. Nach der Rückkehr wird sie positiv getestet. Ein 33-jähriger Mitarbeiter bemerkt ebenfalls Symptome, ist an Corona erkrankt. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse. Und Spahn irrt in Sachen Corona zum ersten Mal – ruft zu mehr Gelassenheit im Umgang mit dem Coronavirus auf: „Für übertriebene Sorge gibt es keinen Grund“, sagte er bei einer Pressekonferenz. „Das Einzige, was mich wirklich beunruhigt, sind die Verschwörungstheorien aller Art“, erklärte Spahn mit Blick auf viele Corona-Spekulationen, die im Internet kursierten. Der deutsche Gesundheitsminister sah keinen Grund zur Panik. Die Behörden hätten alles im Griff. Auch SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach pflichtete dem bei – doch er mahnte bereits zur Vorsicht.
Wenige Tage später regierte Spahn bereits mit einer Eilverordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht auf die sich abzeichnende Pandemie. Knapp 30 Gesetzes und Verordnungen werden folgen. Erstmals werden in Deutschland Geschäfte geschlossen, Reisen und Übernachtungen werden verboten, Grenzen dicht gemacht, der Flugverkehr eingestellt: Am 22. März schickt die Bundesregierung Wirtschaft und Bürgern mit einem totalen Lockdown in einen verspäteten Winterschlaf. Nur Apotheken und Lebensmittelgeschäfte bleiben geöffnet – und rüsten sich mit Plexiglas und Desinfektionsmittelherstellung auf. Dank der Vorarbeit der Kollegen Stephan und Florian Peer aus Südtirol, die Informationen und Materialien über APOTHEKE ADHOC zur Verfügung stellen, wissen die Apotheken schnell, was zu tun ist.
Apotheken erleben zunächst einen bis dahin nie bekannten Boom: Nicht nur Arzneimittel werden auf Vorrat verordnet und gekauft. Verunsicherte Bürger nutzen die Offizin als Anlaufstelle für Informationen. Das Geschäft brummt – aber nur vorübergehend. Auf die Vorzieheffekte folgt Ernüchterung: Im April und Mai brechen die Umsätze ein. Die Patienten sind versorgt und bleiben zu Hause.
Besonders hart trifft es die Center-, Bahnhofs- und Flughafen-Apotheken. Die Laufkundschaft bleibt weg und Reisende gibt es so gut wie keine mehr. Aber auch Apotheken in Bürolagen kämpfen um ihre Existenz, weil die Mitarbeiter scharenweise ins Homeoffice verschwunden sind. Trotzdem: Die meisten Apotheken haben die Corona-Krise besser verkraftet als andere Branchen. Die Steuerberatungsgesellschaft Treuhand Hannover hat für das erste Halbjahr – trotz Einbußen bei Kunden- und Rezeptzahl – ein Umsatzwachstum von 7,1 Prozent bei „ihren“ Apotheken verbucht. Und für das dritte Quartal zeigt der Treuhand-Trend beim Umsatz ebenfalls nach oben – zwischen 3 und 7 Prozent je nach Größe. Der unabhängige Steuerberater Torsten Feiertag kommt in seiner Trendberechnung zu einem ähnlichen Ergebnis. Und zum Jahresende haben die Apotheken für das Verteilen der FFP2-Masken zusätzlich 491 Millionen Euro erhalten.
Damit nicht genug: Die Corona-Krise hat den Apotheken nicht nur erhebliche Mehrarbeit, sondern auch Zusatzeinkommen beschert. Am 22. April trat die Sars-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung in Kraft: Für jeden Botendienst gab es zunächst bis Ende September 5 Euro. Die Abda feierte die Verordnung als Erfüllung ihrer Wünsche: „Die Verordnung entspricht fast vollständig unseren Forderungen und Vorschlägen“, so Abda-Präsident Friedmann Schmidt. Inzwischen ist das Botendiensthonorar zur Regelbezahlung gesetzlich geregelt – wenn auch auf 2,50 Euro halbiert. Vor Corona hätten das die größten Optimisten im Apothekerhaus nicht zu träumen gewagt.
Und dann das Apothekenstärkungsgesetz (VOASG): Im Windschatten der Corona-Krise ging plötzlich alles ganz schnell. Die Diskussionen in der Regierungskoalition wurden über Bord geworfen und die Bedenken der EU-Kommission gleich mit. Nach jahrelangem Gezerre wurde das VOASG im Eiltempo verabschiedet. 150 Millionen Euro für neue pharmazeutische Dienstleistungen gibt es obendrauf. Und ab Januar erhalten die Apotheken für weitere 12 Masken pro Anspruchsberechtigtem in Summe 1,9 Milliarden Euro. Zusammengerechnet sind das 2,7 Milliarden Euro. Das ist ein Honorarplus von gut 50 Prozent des normalen Rx-Packungshonorars. Wer hätte Anfang 2020 damit gerechnet?
Im September traf die Apotheker dann ein Schock: Der private Rezeptabrechner AvP musste Insolvenz anmelden – die zweite Zäsur des Jahres 2020. Viele Apotheken verlieren eine volle Monatszahlung, andere einen Teil davon, wieder andere kommen ungeschoren davon. Wie groß der Schaden ist, wird erst nach dem Insolvenzverfahren feststehen. Das hätte niemand für möglich gehalten. Aufgearbeitet werden müssen noch die Ursachen – Betrug?, Misswirtschaft? Versagen der Aufsicht? Die Endabrechnung der AvP-Pleite wird noch Jahre benötigen.
Und dann gibt es im September wieder und immer wieder Spahn. Er ist der Quotenkönig in den TV-Nachrichten. Kein anderer Name taucht so häufig auf wie der des Gesundheitsministers. Zum ersten Mal geraten aber auch seine Immobiliengeschäfte in die Schlagzeilen. Spahn wehrt sich mit rechtlichen Mitteln. Offenbar gibt es ein Leck in seiner engsten Umgebung, Details des Kaufvertrages einer Villa in Dahlem werden bekannt. Fragen nach der Finanzierung bleiben unbeantwortet und werden inzwischen von der Opposition gestellt. Und dann verkündet Spahn großspurig eine vermeintliche Lektion aus den zurückliegenden Pandemiemonaten: „Man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen. Das wird nicht noch mal passieren.“
Inzwischen wurde alles wieder dicht gemacht. Spahn irrte ein zweites Mal. Und das ist ein Satz, den ein Politiker nicht mehr loswird, so wie Angela Merkels ihre Aussage „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise oder Kanzler Helmut Kohl sein Versprechen der „blühenden Landschaften“. Eine gravierende Fehleinschätzung ist jetzt aktenkundig. Noch steht Spahn in den Hitlisten der deutschen Politik ganz oben – und er kandidiert als Vize von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für den CDU-Vorstand.
Die Corona-Krise hat Spahn Macht und Ansehen verschafft. Je mehr er davon hat, umso mehr regiert er von oben herab: In den Reihen der Gesundheitspolitiker der Regierungskoalition wächst die Kritik am Stil von Spahn, selbst Unions-Politiker fühlen sich nicht mehr eingebunden, kennen Verordnungen vor deren Veröffentlichung nicht. Auch in den betroffenen Verbänden fühlt man sich von Spahn verprellt. Der selbstbewusste Gesundheitsminister stresst Mitarbeiter wie politische Weggefährten. Freunde macht er sich keine. Das könnte sich eines Tages rächen.
Das ist das Besondere am Jahr 2020: Einen richtigen Schlusspunkt gibt es nicht. Das Coronavirus zieht seine Spuren mutierend ins neue Jahr. Ein zweites Mal gibt es Einreise- und Flugverbote. Niemand weiß, wann der zweite Lockdown endet. Und wohin führt noch die Karriere des ehrgeizigen Politikers Spahn? Er lässt weitreichende Einblicke in sein Privatleben zu. Aber bei seinen Finanzen macht er die Schotten dicht. Das lässt Raum für Spekulationen. Irgendwann wird Spahn erklären müssen, wie er Immobiliengeschäfte stemmt, für die Politikereinkünfte gewöhnlich nicht ausreichen.