Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die europäische Ratspräsidentschaft Deutschlands im kommenden Jahr auch dazu nutzen, um gesundheitspolitische Wegmarken in der EU zu setzen, beispielsweise bei der europäischen Nutzenbewertung. Beim Herbstsymposium des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VfA) demonstrierte Spahn Harmonie mit der Branche, machte aber auch klar, wo für ihn die Grenzen liegen.
Die Gesellschaft altert und stellt unsere Sozialsysteme damit immer mehr auf die Probe. Erst kürzlich hatte die Bundesbank errechnet, dass Deutschland bis 2070 das Rentenalter auf 69 Jahre und vier Monate anheben müsse, um dem Druck des demographischen Wandels standzuhalten, erklärte VfA-Vorstandschef Han Steutel zur Eröffnung. Doch bleibe in der öffentlichen Debatte oft unerwähnt, dass die steigende Lebenserwartung der Menschen eine Errungenschaft ist, so Steutel. Dasselbe gelte für die zunehmende Erwerbsfähigkeit nach teils schweren Erkrankungen. An beiden Errungenschaften hätten die forschenden Arzneimittelunternehmen einen wesentlichen Anteil, so Steutel, der versuchte, die Debatte über steigende Arzneimittelkosten auch damit abzufedern. „Ich halte Befürchtungen, dass die Kosten für neue Therapien das deutsche Gesundheitssystem finanziell überfordern für nicht begründet“, so Steutel – ein Seitenhieb in Richtung der aktuellen Debatte um die Gentherapie Zolgensma von Novartis.
Dass er ebenfalls große Hoffnungen in die Entwicklung neuer Arzneimittel setzt, machte Spahn gleich zu Beginn deutlich. „2070 bin ich 90 Jahre alt. Da will ich eigentlich noch ein bisschen vor mir haben“, so der 39-Jährige. „Ich würde natürlich gern 108 werden und will, dass es mir bis dahin gut geht. Daran haben auch Sie einen großen Anteil“, schmeichelte er den Branchenvertretern vor ihm. Dazu müsse Deutschland aber seine Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit behalten. Und da sieht es derzeit nicht allzu rosig aus. Zwar ist die Bundesrepublik nach wie vor einer der wichtigsten Forschungsstandpunkte weltweit, zuletzt hat Deutschland aber einiges an Rang eingebüßt. Nicht nur spielte die hiesige Forschung zuletzt bei epochalen wissenschaftlichen Durchbrüchen wie der CAR-T-Therapie keine Rolle. Zuletzt hat auch Großbritannien Deutschland bei Zahl und Umfang klinischer Studien überholt.
Um wieder in die Spur zu kommen, müsse die Gesundheitspolitik deshalb auch auf Innovation setzen – nicht zuletzt bei der Datenauswertung. „Wir haben in Deutschland viele Datenschätze, die wir nur heben müssen. Aber Deutschland verpasst gerade die Chance, diese Daten zum Vorteil seiner Bürger zu nutzen“, so Steutel, der damit bei Spahn offene Türen einrannte. Doch der hatte noch ein anderes Anliegen, das ihm die Pharmaindustrie immer wieder vorhält: Die Preisbildung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern. „Was es mit mir nicht geben wird, ist ein generelles Infragestellen von Rabattverträgen“, so der Minister. Das Argument, die Industrie brauche hohe Preise, um Forschung und Entwicklung zu refinanzieren, verstehe er zwar prinzipiell – doch wenn er sich die Margen und Gewinnspannen in der Pharmaindustrie anschaue, dann müsse man schon zugeben, dass es da so schlecht nicht aussehe, betonte er leicht süffisant. Das gelte übrigens nicht nur mit Blick auf die heimische Insdustrie.
„You are underpricing your drugs“, sage ihm sein amerikanischer Amtskollege Alex Azar, selbst ehemaliger US-Chef von Eli Lilly, jedes Mal, wenn er ihn sehe. Das sei ihm jedoch zu einfach gedacht, so Spahn. Die Kritik der US-Regierung, Europa – und eigentlich der Rest der Welt – seien Nutznießer der enormen Arzneimittelpreise in den USA, die schließlich der Refinanzierung der Forschung dienen würden, könne er zwar prinzipiell verstehen, halte sie aber dennoch für nicht stichhaltig. Stattdessen machte Spahn eine Gegenrechnung auf: Zwar könnten Pharmaunternehmen in Deutschland aufgrund des AMNOG auf Dauer keine selbstgewählten Preise abrufen, aber: „Mit Zulassung können sie nicht nur in den ersten zwölf Monaten den Preis selbst festlegen, sondern haben sofortigen Zugang zu 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherung mit voller Erstattung durch die Kassen“, som Spahn. „Ich glaube, in diesem Ausmaß ist das weltweit relativ einzigartig.“
Keine globale, dafür eine europäische Frage, die die Branche umtreibt, ist das Health Technology Assessment (HTA), also die europäische Nutzenbewertung. Er habe die Hoffnung, dass Deutschland das Thema im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 abschließen kann. „Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn es schon früher fertig wird“, so Spahn. Dabei gebe es jedoch eine bedeutende Grenze für ihn: Es gehe einzig um eine europäische Nutzenbewertung, nicht um die Bestimmung europäischer Erstattungspreise, also die Preisbildung bei Arzneimitteln. Da ist er mit dem VfA auf Linie, wie auch Steutel betonte: „Wir liegen da sehr nah beieinander.“ Die Bundesregierung solle die Umsetzung der europäischen Nutzenbewertung konsequent verfolgen.
Auch hier wurde Spahn grundsätzlich: Gesundheitswesen sei auch ein Kulturgut. So wie der NHS in Großbritannien ein nationales Heiligtum sei, so sei auch die hiesige historisch gewachsene Struktur einzigartig für Deutschland. Die Europäische Union solle sich dort soweit es geht zurückhalten. „Wissenschaft ist in jedem Land gleich. Welche Resultate aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gezogen werden, muss jedoch jedes Land für sich selbst entscheiden können“, so Spahn.
Tatsächlich wird Spahn aller Voraussicht nach mit dem bevorstehenden Entschluss der EU zum Thema zufrieden sein können. Anfang des Jahres bereits hatte das EU-Parlament dafür gestimmt, das Anliegen der Kommission zu unterstützen, dabei aber strikte Grenzen eingezogen. So soll zwar die Nutzenbewertung zukünftig im Grunde zentral durchgeführt werden, dennoch sollen aber auf nationaler Ebene ergänzende Studien möglich sein, wenn der entsprechende medizinische Standard in dem jeweiligen Land durch die Prüfung der Vergleichstherapie auf europäischer Ebene nicht ausreichend abgedeckt wurde.
Das heiße jedoch nicht, dass in Gesundheitsfragen auf europäischer Seite nicht mehr kooperiert werden müsse. Denn es gebe zunehmend Gesundheitsherausforderungen, die global angegangen werden müssen, schlimmstenfalls Seuchen wie Ebola oder Zika. Da versuche dann das Gesundheitsministerium einzeln Lösungen zu finden, obwohl es sich doch um Probleme handelt, die jedes Land gleich betreffen. Spahns Vorschlag: Europa brauche wie die USA ein eigenes CDC, ein Center für Disease Control an Prevention – oder wie Spahn es umschreibt: „Das ist quasi ein Paul-Ehrlich-Institut in sehr, sehr, sehr, sehr, sehr groß.“
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