In der Diskussion um das rund zwei Millionen Euro teure Medikament Zolgensma gegen Muskelschwund von Novartis hat jetzt das Berliner Sozialbericht (SG) eine Krankenkasse in einem Eilverfahren zur Kostenübernahme bei einem knapp zweijährigen Kind verurteilt. Die Kasse „wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, verpflichtet, die Kosten einer Behandlung mit dem Arzneimittel Zolgensma zu übernehmen“, lautet der Beschluss des SG Berlin. Laut einem Zeitungsbericht soll kürzlich auch das Sozialgericht Neuruppin einem Eilantrag einer aus Liebenwalde in Brandenburg stammenden Familie stattgegeben haben – und entschied, dass die fast zweijährige, an spinaler Muskelatrophie (SMA) erkrankte Frida das teuerste Medikament der Welt von der Krankenkasse bezahlt bekommt.
Im Berliner Fall hatte die Krankenkasse zunächst die Kostenübernahme verweigert. Nach § 2 Abs. 1a SGB V könnten Versicherte „mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung“, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch von Kassenleistungskatalog abweichende Leistungen beanspruchen. Für die Richter liegt dieser Anspruch auch dann vor, „wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.
Bei der Frage, ob eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht, sei zu beachten, welche Behandlungsziele mit der jeweiligen Behandlung verfolgt werden und erreicht werden könnten. Denn die Frage, ob eine alternative Behandlungsmethode von der gesetzlichen Krankenversicherung zu finanzieren sei, könne nicht losgelöst davon betrachtet werden, was die anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung zu leisten vermöge und was die alternative Behandlung zu leisten vorgebe.
Zur Behandlung Spinaler Muskelatrophie (SMA) Typ I, einer unbehandelt regelmäßig tödlichen Erkrankung, liege eine zugelassene Behandlungsmethode vor, nämlich die bereits auch in diesem Fall bereits begonnene Behandlung mit Spinraza, so die Richter weiter. Diese Behandlung verspreche keine vollständige Heilung, wohl aber eine im konkreten Fall wesentliche Verzögerung des Fortschreitens und des unbehandelt regelmäßig frühzeitig eintretenden Todes. Die Behandlung habe bei dem knapp zweijährigen Kind bereits zu einer Verbesserung der motorischen Fähigkeiten geführt. Der Junge könne bisher auch Schlucken und müsse nicht künstlich beatmet werden. Wann eine künstliche Beatmung erforderlich werden werde, lasse sich aktuell nicht sagen, so die Richter.
Obwohl weder die behandelnden Ärzte noch Novartis zu den Genesungsaussichten mit Zolgensma konkrete Angaben machten, kamen die Richter dennoch zu dem Schluss, dass ein Leistungsanspruch des Patienten gegenüber der Kasse bestehe „nach den Grundsätzen der Folgenabwägung“. Denn in medizinischer Hinsicht sei der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt, um die Entscheidung im Eilverfahren allein auf die Erfolgsaussichten zu stützen. Die vom Hersteller benannten positiven Fallbeispiele und besseren Behandlungsergebnisse in der zu Zolgensma durchgeführten Phase I-Studie im Vergleich zu der zu Spinraza durchgeführten Phase III Studie, ließen es möglich erscheinen, dass im konkret Fall eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu erwarten sei. Wegen der Eilbedürftigkeit könnten aufwändige Ermittlungen und eine vollständige medizinische Klärung im vorliegenden Eilverfahren jedoch nicht durchgeführt werden.
Daher sei eine Folgenabwägung vorzunehmen. Der Junge Antragsteller erreiche in zwei Monaten die Altersgrenze bis zu der eine Zulassung in den USA vorliegt. Die Behandlungserfolge hingen zudem von einer frühzeitigen Behandlung ab. Der Antragsteller habe daher keine Zeit, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten, die Behandlung wäre dann nicht mehr möglich. Dem Antragsteller würde bei einer Ablehnung endgültig die Möglichkeit genommen, von den Behandlungschancen der Anwendung von Zolgensma zu profitieren, und er würde damit die Chance auf möglicherweise spürbare Verbesserungen seiner Mobilität, selbständige Atemfähigkeit und Verlängerung seiner Lebenserwartung nicht erhalten, so die Richter.
Dem gegenüber stehe „nur“ das Risiko der Kasse, Kosten, die sie aufgrund einer Eilentscheidung vorläufig zu tragen hätten, bei einer Hauptsacheentscheidung zu ihren Gunsten möglicherweise gar nicht oder nur teilweise erstattet zu bekommen. Das Gericht verkenne dabei nicht die „enormen Kosten“, die die Behandlung mit Zolgensma auslöse. „Dennoch wiegen die grundrechtlich geschützten Belange des Klägers, die schweren Folgen seiner Krankheit gegebenenfalls spürbar besser eindämmen zu können, hier schwerer als die rein monetären Belange der Antragsgegnerin“, urteilten die Richter. Dabei werde die finanzielle Belastung der Antragsgegnerin zudem dadurch reduziert, dass bei einer einmaligen Behandlung mit Zolgensma die ebenfalls erheblichen laufenden Kosten der Behandlung mit Spinraza (bisher circa 700.000 EUR) entfielen.
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