Der Streit um die Impfstoffvereinbarung zwischen AOK Nordost und dem Berliner Apotheker-Verein (BAV) geht in die nächste Runde. Nachdem die AOK vor dem Landessozialgericht Hessen (LSG) gegen Sanofi einen Erfolg verbuchen konnte, dauerte es keine 24 Stunden, bis sich auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) wieder zu Wort meldete und die Kasse angriff. Die Politik fordert er auf, klare Verhältnisse zu schaffen. Unterdessen wurde der Beschluss des LSG veröffentlicht und gewährt Einblick in dessen Entscheidungsfindung.
„Die Borniertheit, mit der die AOK Nordost das Urteil des Landessozialgerichts Hessen auslegt, lässt vermuten, dass es der Kasse in Wahrheit um etwas anderes geht, als um die Versorgungssicherheit“, so BPI-Vorsitzender Martin Zentgraf. Gemeint ist der Beschluss, mit dem das LSG im Eilverfahren entschied, die Kasse und der BAV hätten sich bei der Vereinbarung über tetravalente Grippeimpfstoffe an geltendes Recht gehalten, weil diese produkt- und herstellerneutral ausgestaltet sei und weder direkt noch indirekt bestimmte Hersteller bevorzuge. So hatte es die AOK gestern gemeldet und dabei verkündet, das LSG habe damit „in vollem Umfang den Standpunkt der AOK Nordost (…) bestätigt“. Beim BPI kam das nicht gut an.
Denn laut dem Interessenverband stellt die Vereinbarung vielmehr „eine Versorgungssituation her, die in ihrer Wirkung der eines exklusiven Rabattvertrages gleichkommt“. Damit liegt er auf einer Linie mit der zweiten Vergabekammer des Bundes beim Bundeskartellamt, die im Rechtsstreit zwischen AOK Nordost und GlaxoSmithKline (GSK) zum selben Gegenstand eine entsprechende Entscheidung gefällt hatte. Sie sieht in dem Vertragswerk einen öffentlichen Auftrag, der durch die Regularien einem einzigen Hersteller zukommt.
Denn für den quadrivalenten Impfstoff ist in der Vereinbarung pro Dosis ein Betrag von 10,95 Euro plus Mehrwertsteuer vorgesehen – der Preis von Mylans Vakzine Influvac Tetra. Kümmert sich eine Apotheke in Eigenregie um die Beschaffung eines Grippeimpfstoffs, muss sie selbst zusehen, dass sie kostendeckend arbeiten kann. Denn die anderen beiden verfügbaren quadrivalenten Impfstoffe Vaxigrip tetra von Sanofi und Influsplit tetra von GSK haben einen Listenpreis von 13,11 Euro pro Dosis in der Zehnerpackung – also deutlich mehr, als mit der AOK Nordost vereinbart wurde.
Da endet die Einigkeit zwischen Vergabekammer und BPI aber auch schon. Denn im Gegensatz zum Interessenverband vertritt die Kammer die Ansicht, dass eine solche Lenkung an sich legitim ist. Sie müsse dann allerdings entsprechend der Richtlinien von Vergabeverfahren ablaufen, was nicht geschehen sei. Deshalb schlug sie drei verschiedene Möglichkeiten vor: Zwei Ausschreibungsmodelle und ein Open-House-Verfahren.
Dieser Auffassung widerspricht das LSG ausdrücklich. Denn dem Gericht zufolge ist es hier nicht der Vertrag, der reguliert, sondern der Markt. Zwar wirke die Vereinbarung „indirekt auf das Verhalten des Apothekers ein, weil sich dieser unsinnig verhält, wenn er einen entsprechenden Impfstoff eines Anbieters bestellt, dessen Preis höher als der vereinbarte Festbetrag ist“, so das LSG in seiner Begründung. „Dieser Effekt beruht jedoch nicht auf einer rechtlichen Beschränkung des Anbieterkreises.“ Sprich: Es ist dem Apotheker rechtlich unbenommen, betriebswirtschaftlichen Unsinn zu betreiben.
Da das in dem Fall wohl kaum jemand macht und weil laut LSG kein exklusiver Zuschlag wie in einem normalen Vergabeverfahren vorliegt, sei es lediglich eine Folge des „marktwirtschaftlichen Mechanismus, dass das teure Produkt aufgrund des Festbetrags nicht nachgefragt wird“. Dieser Marktdruck könne jedoch allein nicht dazu führen, die Geltung des Vergaberechts anzuordnen. Die Logik: Weil die Vereinbarung nur den Preis betrifft, ist kein Hersteller von der Marktteilnahme ausgeschlossen. Die Lösung wäre demzufolge ganz einfach: Will Sanofi seinen Impfstoff in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern verkaufen, muss es den Preis eben auf 10,95 Euro senken.
Zwei Kammern, zwei verschiedene Entscheidungen also. Für BPI-Chef Zentgraf ist klar, was das bedeutet; er spielt den Ball zur Politik: „Die divergente rechtliche Beurteilung zeigt eines: Hier ist der Gesetzgeber gefordert, schnellstmöglich für klare gesetzliche Regelungen zu sorgen, die die Impfstoffversorgung auf sichere Füße stellen.“ Politiker unterschiedlicher Fraktionen hätten die Kassen bereits aufgefordert, „von ihrer riskanten Praxis exklusiver Impfstoffverträge Abstand zu nehmen“.
Und nicht nur die Impfstoffvereinbarung selbst, sondern auch der Streit um sie hat es bereits vor Gericht geschafft. Ende März hatte der BPI in einer Pressemitteilung scharfe Kritik an der AOK geübt. Er warf der Kassen unter anderem eine „Versorgungssteuerung durch die Hintertür“ vor. Damit riskiere sie „sehenden Auges Versorgungsengpässe für die Patienten“. Auch in der Pressemitteilung war explizit die Rede von „Ausschreibungsmodell“ und „Rabattvertrag“.
Der AOK ging die Kritik zu weit. Sie mahnte den Verband ab, der sich jedoch weigerte, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Daraufhin beantragte die AOK beim Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung. Nach mündlicher Verhandlung wies das Gericht den Antrag ab. Und der Streit in der Sache dürfte bald weitergehen: Die AOK hat Beschwerde gegen das Urteil der Vergabekammer eingelegt. Nun muss sich das Oberlandesgericht Düsseldorf mit der Causa befassen.
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