Als Reaktion auf die Kritik des GKV-Spitzenverbands an Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen hat der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) die Bedeutung von Orphan Drugs als „alternativlos“ unterstrichen. Befürchtungen, Orphan Drugs könnten zu erheblichen Steigungen der Arzneimittelausgaben führen, wies der stellvertretende BPI-Hauptgeschäftsführer Dr. Norbert Gerbsch zurück.
Der Orphan Drug-Anteil an den Arzneimittelausgaben betrage nur 3,2 Prozent. Mit überdurchschnittlichen Steigerungsraten sei nicht zu rechnen. Jährlich würden im Jahresmittel acht bis neun neue Orphan Drugs zugelassen, so Gerbsch: „Es gibt keine Ophanisierung“. Derzeit seien 117 Orphan Drugs auf dem Markt. Man sehe aber mit Sorge, dass Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen regelmäßig in die Kritik gerieten. Für die betroffenen Patienten seien Orphan Drugs von unschätzbarem Nutzen. Man dürfe diese Arzneimittel daher nicht gegen die Finanzierung der Krankenkassen „ausspielen“, warnte Gerbsch.
Kürzlich hatte der GKV-Spitzenverband seine Kritik an der Zulassung von Orphan Drugs erneuert. Anders als bei den übrigen Medikamenten werde Orphan Drugs ohne vorherige Prüfung ein Zusatznutzen unterstellt. Dem würden diese tatsächlich nur in sehr wenigen Fällen gerecht, erklärte der GKV-Spitzenverband.
Der Verband berief sich dabei auf eine Untersuchung der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Zusatznutzen neuer Arzneimittel von 2011 bis Mitte Dezember 2015. Danach stellte der G-BA für knapp die Hälfte der Patientengruppen (47 Prozent) bei Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten einen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen fest. „Das bedeutet: Die wissenschaftliche Datenbasis ist nicht ausreichend, um das Ausmaß des Zusatznutzens zu beurteilen.“
Zu Recht und politisch gewollt werde der Wert der Orphan Drugs bei der frühen Nutzenbewertung durch den Gesetzgeber anerkannt, entgegnete Gerbsch. Die Zulassung von Orphan Drugs sei vom Gesetzgeber an strenge Kriterien geknüpft. Die „zweifelhaften Kassenanalysen und falschen Tatsachenbehauptungen“ ließen die von seltenen Erkrankungen betroffenen Menschen aus den Augen, warf Gerbsch den Krankenkassen Stimmungsmache vor.
Als Beleg für den Nutzen von Orphan Drugs präsentierte der BPI die stellvertretende Vorsitzende der Gaucher Gesellschaft Deutschland, Sabine Biermann. Als Morbus-Gaucher-Patientin berichtete Biermann über ihre persönlichen Erfahrungen mit dieser seltenen Stoffwechselerkrankung. Diese führe zu massiven Knochen- und Gelenkschmerzen und zu extremer Müdigkeit, die kein normales Berufs- und Familienleben mehr zuließen. Das Leben mit Morbus Gaucher sei „sehr schwierig“. Sie sei Ausgrenzungen, Demütigungen und großen Ängsten ausgeliefert gewesen, berichtete Biermann.
Vom Auftreten der Erkrankung bis zur Diagnose und Therapie habe es 14 Jahre gedauert. Während dieser Zeit sei sie weitgehend erfolglos mit Schmerzmitteln, Antibiotika und Physiotherapien behandelt worden. Nach der Entwicklung und Verabreichung der spezial entwickelten Arzneimittel sei sehr rasch eine Besserung eingetreten. Biermann: „Nach drei bis vier Infusionen ging es mir phänomenal besser.“
Sie könne heute wieder ohne Schmerzen in ihren Beruf als Arztassistentin arbeiten und ein weitgehend normales Familienleben als Mutter zwei Kinder und Großmutter von zwei Enkeln führen. „Es gibt bei mir eine 99-prozentige Besserung“.Biermann appellierte an Pharmahersteller, an Wissenschaft und an Politik, ungeachtet der Kosten-Nutzen-Diskussion so viele Orphan Drugs wie möglich zu entwickeln und einzusetzen. Biermann: „Diese Arzneimittel sind sehr effektiv.“
Professor Dr. Annette Grüters-Kieslich vom Centrum für seltene Erkrankungen an der Berliner Charité fordere ebenfalls zu weiteren Anstrengungen auf. Es gebe mehr als 8000 seltene Erkrankungen aufgrund von Gendefekten. Beinahe täglich entdeckten die Genforscher neue Erkrankungen. Besonders bei Neugeborenen seien große Heilungserfolge mit Orphan Drugs erzielbar.
Grüters-Kieslich berichtete insbesondere über Neugeborene mit Schilddrüsenunterfunktionen, die mit Orphan Drugs vor lebenslangen Erkrankungen und Missbildungen gerettet werden könnten. Wissenschaft und Pharmaunternehmen müssten bei der Entwicklung von Orphan Drugs noch enger kooperieren, fordert die Ärztin.
APOTHEKE ADHOC Debatte