Staatsanwaltschaften in mehreren Bundesländern ermitteln nach Informationen der „Welt am Sonntag“ („WamS“) in millionenschweren Betrugsverfahren gegen Apotheker. Es gehe dabei um „Luftrezepte“, schreibt die Zeitung. Dabei rechneten Apotheker Tausende von Verschreibungen mit den Krankenkassen ab, obwohl die verschriebenen Medikamente nie über den HV-Tisch gingen. Ärzten oder Patienten sollen beteiligt gewesen sein.
In dem konkreten Fall, über den die „WamS“ berichtet, hatten eine Ärztin und ihr Lebensgefährte mit einem Apotheker gemeinsame Sache gemacht: Sie soll ohne Behandlung Rezepte über hochpreisige Medikamente ausgestellt haben, die ihr Freund in die Apotheke brachte. Dafür erhielt er laut Bericht andere Arzneimittel, die er im Ausland verkaufte. Der Apotheker soll die Rezepte mit den Kassen abgerechnet und die Differenz für sich behalten haben.
Der Umsatz der Apotheke mit der Ärztin soll zwischen Februar und Oktober 2009 1,6 Millionen Euro betragen haben. Rund die Hälfte der Verordnungen der Apotheke kamen aus dieser Praxis. Zum großen Teil sagten die im Ermittlungsverfahren später vernommenen Patienten aber laut Bericht aus, dass sie die Apotheke nie betreten hatten.
Ganz frisch ist der Fall nicht, die Behörden ermitteln seit Ende 2009. Vor vier Wochen hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Anklage erhoben. Oberstaatsanwalt Alexander Badle berichtete der WamS, dass seit Gründung einer Zentralstelle in den vergangenen sieben Jahren 66 Ermittlungsverfahren gegen Apotheker und deren Kunden geführt wurden.
Badle und seine Kollegen haben laut Bericht eine neue Ermittlungsmethode entwickelt, bei der der Wareneingang der Apotheke und die Abrechnungsdaten der Kassen mit einer Software abgeglichen werden können. Entsprechend umfangreich seien dann später die Anklageschriften. Auch im Frankfurter Fall wurde über mehrere Jahre ermittelt. Die Ärztin ist jedoch flüchtig und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Im Beitrag zu Wort kommt auch der Gesundheitsökonom Professor Dr. Gerd Glaeske: „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass Betrug durch Apotheker auffällt“, sagte er der WamS. „Es gibt in diesen Konstellationen von krimineller Energie einzelner Personen üblicherweise nur wenige Mitwisser, und solange die zusammenhalten und sich nicht gegenseitig verpfeifen, gibt es kaum eine Chance, dass es auffliegt“, so Glaeske. Dass der Betrug mit Luftrezepten überhaupt funktioniert, ist Glaeske zufolge einem Systemfehler geschuldet: „Arzneirezepte sind der letzte Bar-Check, den wir in unserer Gesellschaft nutzen.“
Die ABDA sagte der „WamS“ dagegen auf Anfrage, dass keine Hinweise dafür vorlägen, dass es sich um eine weit verbreitete Masche handele. Bei 700 Millionen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Jahr seien Einzelfälle von Betrug aber nicht auszuschließen.
Die WamS berichtet noch über ein zweites Verfahren der Staatsanwaltschaft Potsdam aus dem vergangenen Jahr. Hier soll ein Apotheker mit 60 HIV-Patienten einen Betrug aufgezogen haben, die sich nicht alle Arzneimittel aushändigen ließen, sondern stattdessen Bargeld bekamen. Abgewickelt wurde das Ganze laut Bericht über einen „Rezeptsammler“, der sich regelmäßig mit dem Apotheker traf. Telefonate, SMS und E-Mails zwischen ihm und dem Apotheker wurden monatelang von den Ermittlern überwacht.
Die Organisation Transparency Deutschland schätzt den Schaden durch Betrug und Korruption mit Arzneimitteln im Gesundheitswesen insgesamt laut „WamS“ auf 680 Millionen bis 2,72 Milliarden Euro pro Jahr. Das wären zwei bis acht Prozent der knapp 35 Milliarden Euro Ausgaben der Kassen im vergangenen Jahr für Arzneimittelverordnungen.
Die Schadenssummen, die Kassen durch den Betrug entstünden, seien teilweise deutlich höher als bei jeder anderen Berufsgruppe im Gesundheitswesen, heißt es in dem Bericht weiter. Die KKH etwa habe 2015 fast doppelt so viel ergaunertes Geld von Apothekern zurückgefordert wie von der nächsten Berufsgruppe, den Pflegediensten: Konkret eine knappe halbe Million Euro. KKH-Chef Ingo Kailuweit sagt gegenüber der „WamS“: „Die intransparente Finanzierung unseres Gesundheitswesens lädt scheinbar dazu ein, dass sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern.“
Die KKH hat im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben 287 Fälle von Abrechnungsbetrug aufgedeckt. 2014 waren es noch 343 Betrugsfälle. Die höchste Schadenssumme entfiel wie in den Vorjahren mit knapp 588.000 Euro auf die Apotheken.
Die KKH wurde demnach insgesamt um rund 1,4 Millionen Euro betrogen. Neun Ermittler bei der Kasse suchen nach Betrügern unter den Leistungserbringern. Im vergangenen Jahr wurde in zwölf Fällen Strafanzeige erstattet. „Leider werfen einige schwarze Schafe durch ihr illegales Verhalten einen Schatten auf eine Branche, in der 99 Prozent aller dort Tätigen nach bestem Wissen und Gewissen ihre Patienten heilen wollen“, sagte Kailuweit.
In Brandenburg wurden laut KKH durch eine Apotheke in großem Umfang Fertigarzneimittel abgerechnet. Tatsächlich seien aber individuelle Zubereitungen für die Versicherten angefertigt worden, welche in diesem Fall weitaus günstiger gewesen seien. Der geschätzte Schaden liege im Millionenbereich. 26 Fälle entfielen auf Apotheken – damit landete die Sparte auf Platz 3.
Die meisten neu aufgedeckten Betrüger kommen mit 138 Fällen aus den Bereichen Krankengymnasten beziehungsweise Physiotherapeuten. Dahinter rangiert die Sparte der ambulanten Pflege mit 43 Fällen. Die Schadenssumme betrug laut KKH rund 323.000 Euro. Ein Pflegedienst habe sich beispielsweise Gelder erschlichen, indem er Pflegedienstnachweise gefälscht und Dienstpläne für Mitarbeiter erfunden habe.
Auf Platz vier liegen zahnärztliche Leistungen (12 Fälle). Dahinter folgen ärztliche Leistungen (11), Krankenhaus (11), Fahrkosten (9), Massage beziehungsweise medizinische Badebetriebe (5), orthopädische Hilfsmittel beziehungsweise Sanitätshäuser (5), Ergotherapie (4), Logopäden (4) und Orthopädietechnik, Orthopädieschuhmacher und Schuhmacher (4).
Im Rekordjahr 2013 hat die KKH die eigene Schadenssumme auf rund 30 Millionen Euro geschätzt. Bei 44 Betrugsfällen in Apotheken wurde eine Summe von rund 1,6 Millionen Euro zurückgefordert. Damals haben die Ermittler insgesamt 566 Fälle von Abrechnungsbetrug aufgedeckt. In 21 Fällen wurde Strafanzeige erstattet. Bei der KKH sind rund 1,8 Millionen Menschen versichert, davon sind rund 450.000 Familienangehörige. Das Haushaltsvolumen liegt bei rund 5,3 Milliarden Euro. Bundesweit beschäftigt die Kasse rund 4000 Mitglieder.
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