„Nach Ostern“ ist in der Corona-Krise zu einer ersten Ziellinie geworden. An diesem Mittwoch berät Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder. Sie müssen eine Balance finden zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem Schutz der Gesundheit. Die nationale Wissenschafts-Akademie Leopoldina plädierte am Montag für einen „realistischen“ Zeitplan zurück zur Normalität. Die einflussreichen Wissenschaftler empfahlen, Schulen „sobald wie möglich“ wieder zu öffnen – angefangen bei Grundschulen sowie Unter- und Mittelstufen. Dafür gab es Lob. Wie weit gehen Bund und Länder bei möglichen schrittweisen Lockerungen? Thüringens Ministerpräsident hat bereits angekündigt, dass er kein Zurück zum normalen Alltagsleben vor der Krise sieht.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt, unter bestimmten Voraussetzungen so bald wie möglich zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe I schrittweise zu öffnen. In der am Montag veröffentlichten Stellungnahme der Wissenschaftler, die sich mit weiteren Schritten in der Corona-Pandemie beschäftigt, heißt es unter anderem zu den Voraussetzungen, die Infektionen müssten auf niedrigem Niveau stabilisiert und die bekannten Hygieneregeln eingehalten werden. Zudem sprechen sich die Experten für eine Masken-Pflicht etwa in Bussen und Bahnen aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Studie der Leopoldina als „sehr wichtig“ für das weitere Vorgehen bezeichnet. Zur Sekundarstufe 1 gehören etwa Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen bis Klasse 10 sowie Gymnasien bis einschließlich der Klassen 9 beziehungsweise 10.
Merkel und die Ministerpräsidenten beraten darüber, wie nach dem 19. April – nächstem Sonntag – verfahren wird. Die Runde hatte am 22. März zunächst für zwei Wochen umfassende Einschränkungen beschlossen. Diese wurden dann bis in die Woche nach Ostern verlängert. Schon vorher waren Sport- und Kulturveranstaltungen mit Zuschauern verboten. Die meisten Geschäfte – mit Ausnahmen wie Apotheken und Lebensmittelhändlern – sind seither geschlossen.
In der Stellungnahme „Die Krise nachhaltig überwinden“ sagen die Experten, dass auch viele weitere Teile des öffentlichen Lebens schrittweise unter bestimmten Voraussetzungen wieder normalisiert werden können. Zunächst könnten etwa der Einzelhandel, das Gastgewerbe und Behörden öffnen. Aber auch private und dienstliche Reisen sowie gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen könnten wieder stattfinden. Hierfür müssten jedoch zunächst auch „notwendige klinische Reservekapazitäten aufgebaut“ und auch andere Patienten wieder regulär aufgenommen werden. Als Voraussetzung wird auch jeweils genannt, dass Hygieneregeln diszipliniert eingehalten werden. Und auch wenn jetzt über eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens diskutiert wird, machen die Experten klar, dass „die Pandemie. das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben noch auf Monate bestimmen wird“.
Zur Öffnung von Schulen und Kitas heißt es weiter: „Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können, sollte der Betrieb in Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden.“ In Kitas sollten maximal fünf Kinder in einem Raum sein. Weil ältere Schüler Fernunterricht besser nutzen könnten, wird empfohlen, dass diese erst später wieder zum gewohnten Unterricht zurückkehren sollten.
Die Wissenschaftler machen im Bildungsbereich auch weitere konkrete Vorschläge, wie der Unterricht künftig stattfinden könne. Zunächst solle sich etwa auf die Schwerpunktfächer Deutsch, Mathe und Fremdsprachen konzentriert werden. Zudem sollten konstante Lerngruppen gebildet werden, um das Ansteckungsrisiko zu verringern. Als Gruppengröße wird eine Zahl von 15 Schülerinnen und Schülern genannt, sofern entsprechend große Klassenräume vorhanden sind. „Es bedarf eindeutiger nachprüfbarer Regelungen sowohl für die Hygienestandards in den Klassenräumen als auch für die Flure und die Toiletten“, teilte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Bildung, Udo Beckmann mit.
In den Empfehlungen der Leopoldina heißt es unter dem Punkt „Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Stabilisierung nutzen“, staatliche Beteiligungen sollten nur im äußersten Notfall zur Stabilisierung von Unternehmen eingesetzt werden. Mit dem Auslaufen der jetzigen gesundheitspolitischen Maßnahmen würden mittelfristig weitere expansive fiskalpolitische Impulse notwendig sein. Auf der Einnahmenseite könnten dies Steuererleichterungen sein, das Vorziehen der Teilentlastung beim Solidaritätszuschlag oder seine vollständige Abschaffung. Auf der Ausgabenseite seien zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen, etwa im Gesundheitswesen, der digitalen Infrastruktur und im Klimaschutz wichtig. Die Experten rufen zudem dazu auf, an der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festzuhalten. So sei an der Schuldenbremse im Rahmen ihrer derzeit geltenden Regeln festzuhalten. Dies erlaube gerade in so besonderen Zeiten wie der Corona-Krise eine deutlich höhere Verschuldung, verlange aber bei der Rückkehr zur Normalität wieder deren Rückführung.
Explizit abgelehnt wird eine Isolierung von einzelnen Bevölkerungsgruppen zu deren Schutz. Dies sei eine „paternalistische Bevormundung“. Dennoch müsse Rücksicht genommen werden. „Die Krankheitswirkung von belastenden Ereignissen hängt wesentlich davon ab, ob ein Individuum sie als vorhersagbar und kontrollierbar erlebt oder nicht“, heißt es mit Blick auf die psychischen und sozialen Folgen der Pandemie. Daneben geht die Nationale Akademie der Wissenschaften auch auf technische Aspekte ein. Etwa durch freiwillig bereitgestellte GPS-Daten könne die Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen optimiert werden. Dies sei auch hilfreich, da sich die Pandemie regional sehr unterschiedlich auspräge und idealerweise ein räumlich eng begrenztes Echtzeit-Monitoring nützlich sei. Die Stellungnahme geht zudem auf die politischen Dimensionen der Pandemie und der bisher beschlossenen Maßnahmen ein. „Grundrechtseinschränkungen müssen nicht nur ein legitimes Ziel verfolgen – was in der gegenwärtigen Situation mit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung außer Zweifel steht“, schreiben die Wissenschaftler. Dennoch habe der Staat die Pflicht, angesichts der Schwere der Maßnahmen „ständig zu überprüfen, ob nicht mildere Maßnahmen in Betracht gezogen werden können.“
Die ersten Reaktionen aus der Politik waren positiv. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) teilte mit: „Die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit Sitz in Halle/Saale ist die bisher fundierteste und plausibelste wissenschaftliche Handlungsempfehlung zur Corona-Krise.“ Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat die Empfehlungen als „exzellente Beratungsgrundlage“ für die anstehenden Entscheidungen der Bundesregierung zur möglichen Lockerung von Einschränkungen in der Corona-Krise bezeichnet.
Nordrhein-Westfalens Familienminister Joachim Stamp erwartet keine Rückkehr zu normal geöffneten Schulen und Kitas in NRW sofort nach den Osterferien. „Ich halte es für ausgeschlossen, dass schon am kommenden Montag Schulen und Kitas wieder regulär öffnen“, sagte der FDP-Politiker der WAZ. Mit den Kitaträgern werde über einen Stufenplan gesprochen. Ein „Maßnahmenkatalog“ mit Hygieneregeln werde vorbereitet. Es werde diskutiert, dass diese zunächst mit älteren Kindern eingeübt und danach jahrgangsweise erweitert werden könnten. „Eventuell könnten wir Ende des Monats damit beginnen, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Umsetzung der Hygienemaßnahmen bis dahin gewährleistet werden kann“, sagte Stamp.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) wiederum verwehrt sich gegen den Begriff Lockerungen. Denn der assoziiere, es könnte wieder so wie vor der Zeit werden, als die Corona-Beschränkungen erlassen werden mussten. Oberste Priorität bei allen Entscheidungen, die erwartet werden, habe der Infektionsschutz vor dem Coronavirus, sagte Ramelow. „Es gibt für mich deshalb keine Ausstiegsszenarien, nur Umbauszenarien.“ Er könne sich vorstellen, dass unter strengen Vorgaben der Einzelhandel schrittweise wieder öffnet. „Das geht aber nur mit mehr Personal, mehr Abstand und Kontrollen und strikten Auflagen“, sagte Ramelow am Montag in Erfurt. Er plädiere für ein gemeinsames Agieren der Länder. „Es gibt keinen Knopf, auf den man nur drücken muss und es ist vorbei. Wir müssen mit Corona leben lernen. Dabei ist das Nichtanstecken die große Aufgabe“, so Ramelow. Nur unter strikten Auflagen sei eine Normalisierung des täglichen Lebens möglich. „Es bedarf gemeinsamer Wege in eine neue Realität.“
In der Bevölkerung überwiegt einer Umfrage zufolge bei vielen die Angst vor dem Virus noch die Sehnsucht nach Normalität. Die Mehrheit der Deutschen ist gegen eine Lockerung des Kontaktverbots. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur plädierten 44 Prozent für eine Verlängerung der Maßnahmen über den 19. April hinaus. 12 Prozent sind sogar für eine Verschärfung. Nur 32 Prozent sind für eine Lockerung, und 8 Prozent für eine Abschaffung der Einschränkungen. Dazu passt, dass die Menschen sich an den Ostertagen nach Angaben der Landesbehörden weitgehend an die Regeln hielten. Nur vereinzelt gab es Partys oder Treffen größerer Gruppen. In Brandenburg musste die Polizei Ausflügler von einem See vertreiben, weil sie in der Sonne zu dicht beieinander lagen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte das Verhalten über Osten als entscheidend dafür bezeichnet, ob eine Lockerung der Regeln möglich sei.
Die Schutzmasken-Empfehlung der Leopoldina dürfte bei den Bürgern gemischte Gefühle auslösen. Der YouGov-Umfrage zufolge wollen 33 Prozent eine solche Pflicht wie in Österreich auf Supermärkte beschränken. Weitere 21 Prozent meinen, dass überall in der Öffentlichkeit Schutzmasken getragen werden sollten. 37 Prozent sind gegen eine Schutzmaskenpflicht.
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