Landessozialgericht

Retax: Barmer darf Apotheker nicht reinlegen

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Berlin -

Retaxationen flattern erst Monate nach der vermeintlich fehlerhaften Abgabe in die Apotheke. Unbegrenzt Zeit lassen dürfen sich die Krankenkassen aber nicht: Das Hessische Landessozialgericht (LSG) verdonnerte die Barmer jetzt zur Rückzahlung von 4564,70 Euro plus Zinsen. Die Kasse hatte das Geld anderthalb Jahre nach der Abrechnung zurückgefordert, weil es sich um ein gefälschtes Rezept handelte.

Eine Apotheke aus Hessen hatte im November 2009 ein Rezept über fünf Fertigspritzen Norditropin Nordiflex (Somatropin, Novo Nordisk) beliefert und mit der Barmer abgerechnet. Die Kasse hatte zunächst auch gezahlt. Doch dann wurde bekannt, dass zu dieser Zeit Rezeptfälschungen zu diesem Präparat im Umlauf waren und dass die Staatsanwaltschaft Dortmund in der Sache ermittelte. Die Kasse kam zu dem Schluss, dass der Apotheker die Fälschung hätte erkennen müssen und retaxierte im April 2011 den vollen Betrag.

Der Apotheker legte Widerspruch ein – allerdings wiederum erst im Dezember 2011. Seine Begründung: Die Kasse habe bei ihrer Beanstandung die Jahresfrist nicht eingehalten, zudem sei die unstreitige Rezeptfälschung zunächst weder in der Apotheke noch bei der Kasse aufgefallen. Der angebliche Betrug sei überhaupt erst im Zusammenhang mit einem Strafverfahren, an dem die Apotheke auch gar nicht beteiligt gewesen sei, bekannt geworden.

Die Barmer vertritt die Auffassung, dass sie Retaxationen auch nach Ablauf der Jahresfrist durchführen kann. Die Kasse räumte zwar ein, dass der Apotheker seinen Einspruch mit der Versäumung der Frist hätte begründet können. Doch der Hessische Apothekerverband (HAV) habe im Auftrag des Apothekers eben nicht formal Widerspruch eingelegt, daher gelte die Beanstandung als anerkannt.

Der Apotheker klagte gegen die Retaxation. Das Sozialgericht Kassel hat die Klage im September 2014 jedoch in erster Instanz abgewiesen. Zwar sei im maßgeblichen Arzneiliefervertrag zwischen dem Deutschen Apothekerverband (DAV) und dem Ersatzkassenverband VDEK eine Ausschlussfrist von einem Jahr für die Rezeptprüfung eindeutig festgelegt. Der Apotheker habe aber versäumt, fristgerecht Einspruch einzulegen. Das Gericht folgte also der Argumentation der Kasse, dass der Apotheker die Fristüberschreitung hätte rügen müssen.

Der Apotheker ging gegen diese Entscheidung in Berufung – mit Erfolg: Das LSG wollte der Barmer keine so weitreichenden Befugnisse bei der Retaxation zusprechen. Nach Ablauf der Jahresfrist dürfe eine Kasse überhaupt nicht mehr retaxieren. Eine „erloschene Forderung“ könne nicht dadurch wieder „aufleben“, dass gegen die unzulässige Forderung kein Einspruch erhoben werde, heißt es in der Begründung des Urteils vom 26. Januar.

Das LSG schrieb der Barmer noch ins Stammbuch: „Vielmehr darf die Ersatzkasse, die als Körperschaft des Öffentlichen Rechts an Recht und Gesetz gebunden ist, eine solche Forderung überhaupt nicht mehr geltend machen.“ Es wäre aus Sicht des Gerichts nämlich „sinnwidrig“ und würde „einen Anreiz zur bewussten Missachtung“ des Arzneiliefervertrags bieten, wenn man auch in einem solchen Fall einen Einspruch der Apotheke innerhalb der 3-Monats-Frist verlangen würde und – wenn diese versäumt werde – die Forderung als anerkannt behandele.

Das LSG ließ offen, ob die Apotheke die Rezeptfälschung hätte erkennen müssen. Grundsätzlich dürfen Apotheken erkennbare Fälschungen nicht zur Abrechnung geben. „Daraus folgt im Umkehrschluss ein Zahlungsanspruch des Apothekers, wenn die Fälschung auch bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt nicht erkennbar war“, heißt es im Urteil.

Das SG Kassel hatte in erster Instanz entschieden, dass die Apotheke die Fälschung hätte erkennen müssen. Ganz maßgeblich sei, dass es sich um ein extrem hochpreisiges Arzneimittel handele. Zudem werde Norditropin üblicherweise an kleinwüchsige Kinder und Jugendliche abgegeben, in Ausnahmen an kleinwüchsige Erwachsene. Im konkreten Fall sei der Patient über 30 Jahre alt gewesen. Die Apotheke hätte laut SG auch deshalb hellhörig werden müssen, weil das Präparat auf dem Schwarzmarkt zu Dopingzwecken insbesondere in der Bodybuilderszene gehandelt werde.

Auch wies das Rezept laut Kasse und Sozialgericht leicht erkennbare Merkmale einer Fälschung auf: Neben einem Schreibfehler im vermeintlichen Arztstempel „Dr.Med“ habe die Arztnummer nicht im richtigen Feld gestanden. Das Verordnungsdatum sei nicht korrekt wiedergegeben worden, außerdem fehlte das Kreuz bei der Gebührenpflicht. Die Kasse hatte noch moniert, dass die Anschrift des Versicherten auf dem Rezept eingerückt war und sein Geburtsdatum achtstellig aufgedruckt – statt wie gewohnt sechsstellig.

Die Apotheke hatte entgegnet, es handele sich um eine insgesamt sehr professionelle Fälschung. Auch der Barmer sei diese schließlich nicht aufgefallen, sondern die Kasse sei erst durch das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren aufmerksam geworden. Ein allgemeines Informationsschreiben des HAV mit dem Hinweis auf Rezeptfälschungen sei erst nach dem Vorfall eingegangen.

Das LSG hat grundsätzlich Zweifel, ob ein Apotheker ohne konkrete Hinweis auf Missbrauch besonders genau hinsehen muss, nur weil ein Präparat teurer ist. „Die Unregelmäßigkeiten der vorgelegten Verordnung selbst waren aus Sicht des Senats jedenfalls nicht sehr gravierend“, heißt es im Urteil. Ob im Hinblick auf die besondere Sachkunde des Apothekers von einer Fahrlässigkeit auszugehen sei, kann laut LSG dahinstehen. Denn jedenfalls habe die Kasse das Rezept zu spät beanstandet.

Das Gericht verurteilte die Barmer zur Rückzahlung des vollen Betrags plus Zinsen und ohne Abzug des Kassenabschlags. Auf diesen haben Kassen keinen Anspruch, wenn sie zu Unrecht retaxieren. Revision zum Bundessozialgericht (BSG) wurde nicht zugelassen. Gegen diese Entscheidung kann die Barmer noch Nichtzulassungsbeschwerde einlegen. Ob die Kasse diesen Schritt gehen wird, war bislang noch nicht zu erfahren.

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